Kinder- und JugendmedizinSchon vor der «Viren-Hochsaison»
sind die Notfallstationen überfüllt
Zu viele Notfälle, zu wenig Personal: Kinderärztinnen und Kinderärzte schlagen Alarm. Neben langen Wartezeiten und Verlegungen drohen Engpässe bei der Versorgung.
«Wir haben Angst vor dem, was noch kommt», sagt Katja Berlinger, Geschäftsführerin von Swiss Medi Kids. 200 bis 500 Kinder werden an den drei Standorten des Kinder-Permanence-Netzwerks – in Zürich, Luzern und Winterthur – pro Tag untersucht. *Zahlreiche Kinder leiden unter Atemwegsinfekten, so genannten SR-Viren. Diese sind während der Massnahmen gegen Covid-19 zurückgegangen, jetzt aber wieder stark verbreitet. Schon bevor die kalte Jahreszeit richtig begonnen hat, sind viele Kinder erkrankt. Gleichzeitig fehlt es an Fachkräften. «Die Situation ist desolat», sagt Berlinger etwas ratlos.
Das Personal sei «bereits vor der Hochsaison» übermässig gefordert. Zusätzliche Mitarbeitende zu rekrutieren, sei durch den Zulassungsstopp noch schwieriger geworden. «Ich fürchte, dass wir im Winter an den Anschlag kommen werden», sagt die Geschäftsführerin. Um das Personal zu schützen, werde sich Swiss Medi Kids allenfalls gezwungen sehen, nicht lebensbedrohliche Fälle abzuweisen. «Dabei wäre es gerade unsere Aufgabe, Spitäler und Arztpraxen zu entlasten.»
In den Kinderkliniken ist die Situation ebenfalls angespannt. «Achtung: überfüllte Notfallstation» warnt beispielsweise das Ostschweizer Kinderspital auf seiner Website. Es könne derzeit zu Wartezeiten von bis zu 6 Stunden kommen. Priorität hätten schwer kranke und schwer verletzte Patientinnen und Patienten. «Wir sind sehr stark ausgelastet», sagt Sprecherin Fabienne Stocker. Oft kämen Eltern mit ihren Kindern direkt in die Notaufnahme, die eigentlich zuerst zum Haus- oder Kinderarzt gehen oder sich telefonisch beraten lassen könnten.
Zahl der Fälle hat um mehr als 50 Prozent zugenommen
In einigen Spitälern hat die Zahl der Kinder-Notfälle im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich zu 2021 um mehr als 50 Prozent zugenommen. Pädiatrie Schweiz, die Fachorganisation der Kinder- und Jugendmedizin, schlägt daher Alarm. Die Notfallstationen gelangten zunehmend an ihre Belastungsgrenzen, schreibt sie in einer Mitteilung. Die Situation könne sich in der kalten Jahreszeit weiter verschärfen. Besonders betroffen seien ländliche Regionen mit wenig niedergelassenen Kinderärzten, sagt Generalsekretärin Claudia Baeriswyl. Aber auch in grossen Städten wie Bern, Genf und Zürich sei die Pädiatrie stark belastet.
Besonders besorgt sind die Chefärztinnen und Chefärzte, da es bereits Anfang September phasenweise kaum freie Betten gab. «Kinder mussten stundenlang in Notfallkojen ausharren, bis ein Bett für sie auf der Station frei wurde», teilen sie mit. Andere mussten verlegt werden. «Wir wollen die Bevölkerung und die Politik auf die Problematik aufmerksam machen», sagt Baeriswyl. Alle Akteure seien nun gefordert, einer Überlastung entgegenzuwirken. Pädiatrie Schweiz verlangt etwa stärkere Bemühungen um den Nachwuchs und eine bessere Abgeltung der klinischen Tätigkeit.
Malte Frenzel, Geschäftsführer der Allianz Kinderspitäler der Schweiz, teilt diese Forderungen. Insbesondere Pflegende fehlten. «Die Kinderspitäler stehen unter einem nie da gewesenen Druck», sagt er. Sie deckten immer grössere Einzugsgebiete ab. «Geht eine Praxis zu, spüren sie dies sofort.» Die Belastung des Personals sei anhaltend gross. Die Pandemie habe die Sorge der Eltern um die Gesundheit ihrer Kinder verstärkt. Das sei völlig nachvollziehbar. Viele Fälle seien allerdings nicht derart gravierend, dass sie unmittelbar behandelt werden müssten. «Die Spitäler helfen in telefonischen Beratungen, dies einzuschätzen.»
Die Pädiatrie werde von der Schweizer Politik seit je stiefmütterlich behandelt, kritisiert Katja Berlinger, Mitglied des Expertenrats der parlamentarischen Gruppe Kinder- und Jugendmedizin. Die Verantwortlichen seien sich zu wenig bewusst, dass für die Behandlung von Kindern mehr Zeit benötigt werde als für Erwachsene. Das werde in den Tarifen ungenügend berücksichtigt. Im Gesundheitswesen seien viele Strukturen veraltet. Junge Ärztinnen und Ärzte arbeiteten vermehrt Teilzeit. Ein Kinderarzt, der in Pension gehe, werde heute von zwei bis drei Personen ersetzt. Entsprechend viele müssten ausgebildet werden. Katja Berlinger hofft, dass das Parlament die Pädiatrie vom Ärztestopp ausnehmen wird. «Kurzfristig lässt sich der Personalengpass nicht anders lösen.»
*Wir haben den Text an dieser Stelle ergänzt, weil die kürzere Fassung irreführend war.
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