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Bundeshilfe 2023
Bauern bekommen so viele Notfall-Pestizide wie nie zuvor

Bauern praesentieren verdorbenes Gemuese und Fruechte anlaesslich einer Kundgebung des Berner Bauernverband, Nein zu Food Waste-Ja zu modernem Pflanzenschutz, am Freitag, 13. Oktober 2023, in Bern. Weil immer mehr Pflanzenschutzmittel verboten werden ist der Schutz vieler Kulturpflanzen gefaehrtdet. (KEYSTONE/Peter Schneider)
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Die letzte Zwetschgensaison war schlecht. Dem Obst hatte ein Schädling zugesetzt: der Pflaumenwickler.

Das Beispiel steht für eine Entwicklung, die viele Bauern besorgt. Sie klagen über Krankheiten und Schädlinge – sowie über eine sinkende Zahl an Pflanzenschutzmitteln, die sie dagegen einsetzen dürfen. Letztes Jahr standen ihnen 316 Wirkstoffe zur Verfügung, 2005 waren es noch 435, gut ein Drittel mehr. Gestiegen ist dafür die Zahl der Notfallzulassungen, mit denen der Bund Bauern aus der Patsche helfen will: von 5 im Jahr 2016 auf 27 letztes Jahr – Rekord. 

Die schrumpfende Produktpalette hat mehrere Ursachen. Zum einen hat die Bundesverwaltung zu wenig Ressourcen, um in angemessener Frist neue Bewilligungen zu erteilen; das Parlament hat es abgelehnt, das Personal aufzustocken. In der Schweiz waren Ende des letzten Jahres 661 Gesuche hängig, für neue Wirkstoffe, aber auch für neue Produkte mit bereits bekannten Wirkstoffen und neue Anwendungen für bereits bewilligte Pflanzenschutzmittel. Im laufenden Jahr sind weitere 71 Gesuche dazugekommen.

Zum anderen werden Umweltauflagen für Pestizide laufend verschärft, nicht nur in der EU, auch in der Schweiz. Bundesrat und Parlament wollen die mit Pflanzenschutzmitteln verbundenen Risiken für Mensch und Umwelt bis 2027 halbieren. Dieser Beschluss war der inoffizielle Gegenvorschlag zur Trinkwasser- und Pestizidinitiative, die das Stimmvolk 2021 verwarf. 

«Dramatische Folgen»

Der Schweizer Bauernverband warnt schon länger, der Bund dürfe vor lauter Umweltschutz die landwirtschaftliche Produktion nicht vergessen. Eine schrumpfende Wirkstoff-Palette habe «dramatische Folgen» für den Pflanzenschutz.

Unmut gibt es auch im Parlament. Nationalrat Philipp Matthias Bregy kritisierte bereits 2022, die Situation für Landwirte und Produzenten sei «nicht länger haltbar». Der Mitte-Fraktionschef will die Zulassung beschleunigen. Seine beiden Vorstösse hat das Parlament noch nicht fertig behandelt, bis jetzt geniessen sie breiten Support. 

Nun reagiert der Bundesrat. Er will das Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel an jenes der EU angleichen: Sind Wirkstoffe in der EU genehmigt, sollen sie hierzulande zeitgleich als genehmigt gelten. Dasselbe gilt umgekehrt beim Verbot eines Wirkstoffs. Zudem will der Bundesrat Pflanzenschutzmittel erleichtert bewilligen, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind: Ein EU-Mitgliedsstaat muss das Mittel für dieselbe Anwendung beurteilt und zugelassen haben. Und er muss agronomisch und klimatisch vergleichbar mit der Schweiz sein.  

Bauernchef Ritter kontert

Die Vorschläge des Bundesrats sind noch bis Ende März in der Vernehmlassung – und lösen Kritik aus. «Die Schweiz droht das Land in Europa mit den meisten verschiedenen Problempestiziden zu werden», sagt Ralph Hablützel. Der Biobauer aus Dättlikon bei Winterthur ist Co-Geschäftsführer des Vereins Vision Landwirtschaft, der sich für eine umweltfreundliche Landwirtschaft und Ernährung einsetzt. 

Hablützel spricht von mindestens 50 neuen problematischen Wirkstoffen, die heute in Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich zugelassen seien. «Diese könnten in Zukunft ohne nähere Prüfung in der Schweiz an Landwirte verkauft und von diesen in die Umwelt ausgebracht werden.» Bereits jetzt seien Böden sowie das Grund- und Trinkwasser durch Pestizide und ihre Metaboliten teils stark belastet. Vision Landwirtschaft hat letzte Woche eine Liste mit den aus ihrer Sicht heiklen Wirkstoffen publiziert. 

Der Schweizer Bauernverband wundert sich über die Befürchtungen von Vision Landwirtschaft. «Bisher wurde explizit kritisiert, dass die Zulassung in der Schweiz schlechter funktioniere als jene der EU», sagt Präsident und Mitte-Nationalrat Markus Ritter. «Jetzt möchte man wieder zurückrudern.» Plötzlich sei die EU-Zulassung nicht mehr vertrauenswürdig.

Bund macht Versprechen

Zuständig für die Zulassung in der Schweiz ist das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. «Wir teilen die Befürchtung von Vision Landwirtschaft nicht», sagt Sprecherin Sarah Camenisch. Die Umwelt- und Gesundheitsprüfung werde nicht abgeschafft. Pflanzenschutzmittel würden auch künftig ein sorgfältiges Zulassungsverfahren durchlaufen. «Dabei prüfen verschiedene Bundesämter, ob ein Mittel für Menschen, Tiere und Umwelt keine Gefahr darstellt.»

Das Bundesamt verweist auf eine weitere Neuerung, die die Sicherheit im Pflanzenschutzbereich «eher erhöhen» werde. So soll ein Wirkstoff künftig nur noch zeitlich begrenzt bewilligt sein, nicht mehr unbefristet wie heute. Eine erneute Bewilligung würde dann auf Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen. 

Der umstrittene «Notausgang»

Zudem schafft der Bundesrat eine Ausnahmeklausel. Die Bewilligungsbehörden sollen Wirkstoffen, die in der EU erlaubt sind, die Genehmigung verweigern können, «insbesondere wenn die Bestimmungen des Gewässerschutzgesetzes dies verlangen».

Hablützel von Vision Landwirtschaft glaubt freilich nicht, dass die Behörden diesen «Notausgang» oft nutzen werden: «Je mehr sie sich darauf berufen würden, desto grösser wäre der Druck der Agrarlobby, dies zu unterlassen.»

Der Bauernverband hält diese Sorge für unbegründet. Seit 2022 obliegt die Zulassung nicht mehr dem Bundesamt für Landwirtschaft, dem Umweltschützer seit Jahren vorwerfen, die Interessen der Agrochemie und der Bauern über alles zu stellen. Und: Für die Beurteilung der Risiken von Pflanzenschutzmitteln ist seit zwei Jahren das Bundesamt für Umwelt hauptverantwortlich. «Und in dieses Amt», sagt Bauernverband-Präsident Ritter,  «sollte ja auch Vision Landwirtschaft ein gewisses Vertrauen haben.»