Ostdeutschland wähltDer Bürgerflüsterer stösst an seine Grenzen
CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer kämpft in Sachsen bis zum Umfallen um den Sieg. Um gegen die AfD zu bestehen, redet er seinem wütenden Volk nach dem Mund.
Normalerweise lässt sich Michael Kretschmer von seiner Partei eher wenig sagen, aber jetzt, wenige Tage nach dem islamistischen Anschlag eines syrischen Flüchtlings in Solingen, kommen ihm Friedrich Merz und Markus Söder gerade recht. Die Chefs der Christdemokraten aus Bund und Bayern sind nach Sachsen gereist, um gegen die Regierung in Berlin zu wettern: Der «Ampel» aus SPD, Grünen und FDP wachse das Migrationsthema offenkundig «über den Kopf». Und sie sind gekommen, um Kretschmer zu loben, der Sachsen ganz anders regiere, nämlich «vernünftig, stark und gut».
Kretschmer nutzt die Gelegenheit und fordert seinerseits, Deutschland müsse die Asyleinwanderung umgehend von 300’000 auf maximal 30’000 pro Jahr reduzieren. Mehr Menschen könne man unmöglich integrieren. Erneut wirbt er für den Aufbau einer eigenen sächsischen Grenzpolizei, die diesem Zweck dienen soll – so wie es Söder für Bayern im Wahlkampf 2018 vorgemacht hat. Selbst die sächsische AfD hält die Massnahme für populistisch.
Kretschmer ist viel beliebter als seine Partei
Wenige Tage vor der Landtagswahl ist die Anspannung in Kretschmers CDU mit Händen zu greifen. Der 49-Jährige regiert seit 2017, sein Sachsen ist das wirtschaftsstärkste und mit 4 Millionen Menschen bevölkerungsreichste Bundesland im Osten. Seit der Wiedervereinigung 1990 sitzt die CDU hier ohne Unterbruch an den Schalthebeln der Macht. Doch der erneute Sieg an diesem Sonntag steht infrage. «Es wird extrem knapp», meint Kretschmer.
Anfang August lag seine CDU erstmals seit zwei Jahren in einer Umfrage wieder vor der AfD, mit 34 zu 30 Prozentpunkten. Vor einem Jahr hatte der Rückstand noch sechs Prozentpunkte betragen. Sicher sein, dass seine Partei am Ende wieder die stärkste sein wird, kann sich Kretschmer trotzdem nicht. Mindestens eine Umfrage sah zuletzt die AfD vorne, zudem erwarten viele, dass die Bluttat von Solingen der AfD hilft – allen markigen Forderungen der CDU zum Trotz.
Aus den Umfragen geht ebenfalls hervor, dass der Ministerpräsident in Sachsen viel beliebter ist als seine Partei. 68 Prozent der Befragten wollen ihn im Amt behalten; seinen Konkurrenten Jörg Urban von der AfD wünschen sich nur 13 Prozent – also nicht mal die Hälfte der Wählerinnen und Wähler von dessen eigener Partei. Dennoch ist Kretschmers Sieg keineswegs gewiss.
Woran es dem Ministerpräsidenten im Wahlkampf bestimmt nicht fehlt, sind Einsatz und Ausdauer. Tag für Tag fährt er quer durchs Land, trifft unermüdlich Menschen und redet mit ihnen, egal, ob er erschöpft oder krank ist. Mit seiner Methode hat sich Kretschmer längst deutschlandweit einen Namen gemacht. Sie beruht auf Zuhören, Zuhören und Zuhören. Darauf, Hände zu schütteln, Würste zu braten, Red und Antwort zu stehen, selbst wenn einen die Leute ausbuhen oder beschimpfen.
Diesmal stösst Kretschmers Methode an ihre Grenzen
Der Politiker versteht seine Präsenz als Zeichen des Respekts für Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von deren Gesinnung. Und als Massnahme gegen den allgemeinen Vertrauensverlust, der in Sachsen besonders virulent ist. Im Zeitalter der sozialen Medien mache der direkte Austausch noch einen Unterschied, glaubt Kretschmer. Schon 2019 verdankte er seinen knappen Wahlsieg gegen die AfD vor allem dieser Einsicht.
Doch diesmal stösst seine Methode an ihre Grenzen. 30 Prozent der Menschen in Sachsen seien für einen ernsthaften politischen Dialog gar nicht mehr erreichbar, vermutet man in seinem Umfeld. Also kämpft Kretschmer um den Rest. Aber auch da tut er sich schwer, weil die Erwartungen widersprüchlich sind: Die einen, aus der Mitte, sehen in ihm den Retter der Demokratie, ein Ein-Mann-Bollwerk gegen die drohende Machtübernahme der AfD, andere, eher von rechts, wollen, dass er mit rechter Politik der AfD Konkurrenz macht.
Ein CDU-Mann, der für Frieden mit Russland wirbt
Was die AfD angeht, steht Kretschmer felsenfest, auch wenn ihn Rechtsextremisten dafür anpöbeln und bedrohen: Seine CDU werde keinesfalls mit ihr koalieren, verspricht er, der Rechtsextremismus dürfe in Deutschland nie wieder an die Macht kommen. Die Politiker der AfD nennt er «geistige Brandstifter», Björn Höcke, deren Chef im benachbarten Thüringen, einen «Neonazi».
Doch Kretschmer weiss auch, was sein ausgesprochen eigenwilliges Ost-Völklein von ihm hören will, und passt seine Botschaften daran an – selbst wenn er damit in seiner eigenen Bundespartei längst zu einem Irrlicht geworden ist. So stellt er die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine infrage und fordert Kiew dazu auf, mit Russland über Frieden zu verhandeln, um «das Sterben schnell zu beenden». Oder er schimpft über die fehlgeleitete «Ideologie» und «Planwirtschaft 2.0» der Grünen, obwohl er mit denen in Dresden gerade fünf Jahre gedeihlich regiert hat – nur weil er weiss, dass der Hass auf die Grünen im Osten derzeit unwiderstehlich ist.
Kretschmers Leute beteuern, der Ministerpräsident habe seine Meinungen keineswegs den Erwartungen angepasst, sondern sei – zum Beispiel – schon immer überzeugt gewesen, dass die Ukraine einen Krieg gegen Russland nicht gewinnen könne. Ebenso offensichtlich ist, dass Kretschmer genau weiss, was er für einen Wahlsieg in Sachsen tun und sagen muss.
Der Ministerpräsident hat ausgeschlossen, nach der Wahl mit AfD und Linkspartei zu regieren, möchte aber auch die Grünen loswerden. Faktisch bedeutet das, dass die CDU mit dem neuen Bündnis von Sahra Wagenknecht ins politische Geschäft kommen muss, der ehemaligen Kommunistin. Aber flexibel ist Kretschmer ja.
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