Interview über Ostdeutschland«Die Strasse ist im Osten ein zentraler Ort der Politik»
AfD und Sahra Wagenknecht dominieren den Osten. Zeigt das, dass die Demokratie in der Krise ist? Oder erwarten die Menschen von ihr nur anderes? Soziologe Steffen Mau antwortet.
Nach der Europawahl machten Grafiken Furore, die Deutschland zwischen Ex-DDR und Ex-BRD scharf geteilt zeigen: Im Osten dominiert das Blau der AfD, im Westen das Schwarz von CDU und CSU. Praktisch gleichzeitig veröffentlichte einer der bekanntesten Soziologen ein neues Buch: «Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt». Der Ostdeutsche Steffen Mau erklärt darin, woher die Unterschiede rühren und was er mit «Ossifikation» meint.
Herr Mau, Deutschland ist scharf geteilt wie vor 1989: Woher kommt das?
Ich würde es eine Phantomgrenze nennen, eine Grenze, die fortbesteht, obwohl die alten Staatsstrukturen von BRD und DDR nicht mehr existieren. Die Grenze verschwindet nur langsam, in mancher Hinsicht setzt sie sich fest. Die Annahme, dass die Ungleichheiten irgendwann verschwinden, war illusionär.
Was bedeutet das?
Dass wir einen neuen Realismus benötigen: Die Transformationsphase ist abgeschlossen, die Ungleichheiten stabilisieren sich. Das betrifft nicht nur die Politik, die Einkommen und Vermögen, sondern eigentlich alles: die Dichte an Tennisplätzen, die Häufigkeit von Moscheen, den Anteil von Migrantinnen und Migranten, die Anschlüsse von Wohnungen an Fernwärmenetze und so fort.
Warum sind Parteien wie die Alternative für Deutschland und das Bündnis Sahra Wagenknecht im Osten so viel beliebter als im Westen?
Auch das hat mit der Geschichte der Wiedervereinigung zu tun: Die Parteiendemokratie ist im Osten nicht gut eingewurzelt. Die Zahl der Parteimitglieder ist proportional nur halb so gross wie im Westen. Dort werden die grossen Volksparteien bis heute von Milieus getragen, die es in Ostdeutschland gar nie gab. Die CDU und die SPD waren im Osten zwar schnell erfolgreich, blieben aber bis heute Scheinriesen.
Mit welchen Folgen?
Viele Menschen im Osten sind Wechselwähler. Sie wechseln auch zwischen Parteien, die nicht zu einer Parteienfamilie gehören oder sich ideologisch gar konträr gegenüberstehen. Es gibt in Ostdeutschland mehr politische Entfremdung. In Zeiten erhöhten sozialen und politischen Stresses wie jetzt gehen die Leute auch zu extremen Parteien. Wobei natürlich Unterschiede bestehen: Anders als die AfD will Wagenknecht nicht die gesamte Demokratie verändern.
Beide Parteien sind vergleichsweise jung. Zufall?
Nein. Es sind auch andere Typen von Parteien als die, die wir in Deutschland bisher kannten. Die Europawahl hat gezeigt, dass es relativ egal ist, wer in der AfD an der Spitze steht. Obwohl sie ihre beiden Spitzenkandidaten wegen Skandalen im Wahlkampf verstecken musste, war sie erfolgreich. Das wäre so bei keiner anderen Partei möglich gewesen. Wagenknechts Bündnis wiederum ist auf sie als Person so sehr zugeschnitten, wie es in Deutschland bisher nicht üblich war.
Sorge um die Zukunft und Wut waren die entscheidenden Motive bei Menschen, die AfD und Wagenknecht wählten. Warum sind diese Gefühle im Osten stärker und weiter verbreitet?
Das lässt sich nicht immer durch ökonomische Kriterien erklären. Viele Städte im Osten boomen, die Lebenszufriedenheit hat fast Westniveau, die Arbeitslosigkeit ist stark gesunken. Aber viele Menschen sind veränderungserschöpft. Sie mussten sich nach der Wiedervereinigung neu erfinden und brauchten oft lange, um wieder sicheren Boden unter den Füssen zu spüren. Wenn dann neue Umbrüche kommen – nicht nur die globalen Krisen, auch die Migration, die diverse Gesellschaft, die Digitalisierung –, reagieren viele mit Abwehr. Sie halten an ihrem Besitzstand fest und sagen: Ich will mich nicht mehr verändern!
Da setzen die Populisten an.
Ihre Botschaft ist: Du darfst so bleiben, wie du bist – und die Welt soll sich an deine Bedürfnisse anpassen. Nicht umgekehrt.
Die Bevölkerung im Osten schrumpft seit langem. Führt die Abwanderung zu Ressentiments, auch gegen Einwanderung?
Es ist ein demografisches Paradox: Schrumpfgesellschaften schauen am skeptischsten auf Zuwanderung. Sie fühlen sich geschwächt oder schwach und fürchten sich deshalb umso mehr vor «Überfremdung» – oder gar dem Verschwinden.
Dabei gibt es in einer Stadt wie Berlin viel mehr Zuwanderer als irgendwo im Osten.
Schrumpfende Gesellschaften organisieren sich mental als Wagenburgen der Selbstverteidigung. Sie schliessen gegen aussen die Reihen, obwohl sie sich eigentlich öffnen müssten, um auf Dauer zu überleben. Je mehr eine Gemeinde schrumpft, umso grösser die Skepsis gegen Zuwanderung. Manche Ökonomen sprechen von einer demografisch suizidalen Situation – weil verweigert wird, was man am nötigsten braucht. Migranten wiederum wollen wegen der verbreiteten Fremdenfeindlichkeit auch gar nicht mehr gerne in den Osten. So wie junge Menschen nicht gerne in Gegenden ziehen, die überaltert sind. So entsteht ein doppelter demografischer Nachteil.
Viele ältere Menschen im Osten sind verbittert, weil ihre Kinder längst im Westen leben. Welche Folgen hat das?
Studien zeigen, in welchem Radius Kinder und Enkelkinder wohnen, und kommen zum Schluss: Im Osten sind die Entfernungen viel grösser. Das führt nicht nur zu Gefühlen des Verlassenseins, sondern auch zu Problemen bei der Pflege und zu sozialer Isolation.
Sie schreiben, dass im Osten heute so wenige Menschen leben wie zuletzt 1905 – eine schockierende Zahl.
Schon vor der Gründung der DDR wanderten viele Menschen in den Westen ab, aus der DDR vor und nach dem Mauerbau ebenfalls. Anfang der 1990er-Jahre kam es nochmals zu einer grossen Welle. Wir blicken im Osten auf 70 Jahre Abwanderung zurück. Die Bevölkerung ist in dieser Zeit um 30 Prozent geschrumpft, im Westen um 40 Prozent gewachsen!
Die Politik neigt im Osten eher zu Protesten, die auf der Strasse stattfinden. Warum?
Auch das hat damit zu tun, dass die Parteien im Osten politische Schwächlinge geblieben sind. Sie sind nicht in der Lage, Konflikte zu absorbieren. Das bricht sich dann auf der Strasse Bahn.
Dann wird spaziert und marschiert, montags und an anderen Tagen…
Genau. Bei klassischem politischem Engagement hängt der Osten hinterher, bei unkonventionellen Aktionen – Petitionen, Mahnwachen, Strassenproteste – ist er dem Westen voraus. Die Strasse ist im Osten ein zentraler Ort der Politik. Da gibt es eine Kontinuität zur friedlichen Revolution von 1989. Die Urerfahrung damals war: Man geht auf die Strasse, erzwingt Zugeständnisse oder stürzt gar ein Regime. Diese Erwartung ist geblieben. So hat sich im Osten ein Parallelstrang zum System der im Westen dominierenden parlamentarischen Parteiendemokratie entwickelt.
«In der Schweiz gibt es eine politische Kultur der Einflussnahme. In Deutschland fehlt sie.»
Die Staatskritik fällt im Osten radikaler aus als im Westen. Woher rührt das Misstrauen?
Einerseits natürlich aus der DDR, andererseits aus Enttäuschungen und sozialen Flurschäden seit der Wiedervereinigung. Gegen die Hartz-Reformen gab es 2004/05 im Osten grosse Proteste, während der Flüchtlingskrise 2015/16 erneut. Letztere hat sogar zu einem neuen Bruch zwischen Ost und West geführt.
Im Westen wird das, was im Osten passiert, oft als eine Krise der Demokratie beschrieben. Sind im Osten nicht einfach die Erwartungen ganz andere?
Im Osten dominiert das Gefühl, dass eine Demokratie vor allem dann funktioniert, wenn sich eine Art ursprünglicher Volkswille durchsetzt.
Viele wünschen sich deswegen Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild.
In der Schweiz gibt es eine politische Kultur, in der diese Art der Einflussnahme lange eingeübt wurde. In Deutschland fehlen diese Voraussetzungen. Die Frage ist, wie man es dennoch schafft, Unmut besser zu kanalisieren und ins System einzubringen, ohne dieses zu unterminieren.
Könnten Bürgerräte dabei helfen?
Der Osten könnte zu einem Demokratie-Labor werden, in dem neue Teilnahmeformen erprobt werden. Bürgerräte sind eine Möglichkeit. Sie haben einige Vorteile: Gegen Elitenkritik sind sie relativ immun, es wird eher über die Sache als über Ideologie gestritten, die Teilnehmenden sind selbst für Kompromisse verantwortlich. Aus Studien wissen wir zudem, dass in Bürgerräten extreme Positionen oft eingehegt werden. Es setzt sich eher die leise Mitte durch.
«Jetzt könnten sich in Ost und West völlig unterschiedliche Parteiensysteme entwickeln.»
Volksabstimmungen?
Davon bin ich kein so grosser Fan. Im Vorfeld wäre dafür eine hohe Diskursqualität nötig. Im Osten ist der öffentliche Raum dafür aber eher schwach ausgeprägt, überregionale Medien finden kaum Aufmerksamkeit. Von Irland liesse sich vielleicht eher lernen: Ein Bürgerrat erarbeitete dort ein Abtreibungsrecht, das dem Volk danach zur Abstimmung vorgelegt wurde. Es kam eine Lösung heraus, die die Parteien so nie hätten finden können.
In Sachsen oder Thüringen könnte die AfD schon in zwei Monaten an die Macht kommen. Würde das die Spaltung zwischen Ost und West nicht noch vertiefen, zumal die Partei im Osten als gesichert rechtsextremistisch gilt?
Diese Wahlen könnten uns an eine Weiche führen, an der sich in Ost und West völlig unterschiedliche Parteiensysteme entwickeln. Die FDP und die Grünen spielen im Osten schon jetzt keine Rolle mehr, das Bündnis Wagenknecht ist im Osten dreimal so stark wie im Westen, die AfD doppelt so stark. Nur die CDU erscheint noch als kräftige gesamtdeutsche Partei.
Im Osten geniesst Russland bei vielen immer noch mehr Vertrauen und Sympathie als die USA. Angesichts der DDR-Erfahrung ist die Idealisierung erstaunlich, nicht?
Die Sowjetunion erscheint im Nachhinein vielen als friedlicher Vielvölkerstaat, das Bild von Putin wird häufig geschönt. Die Westbindung ist viel geringer: Die Mitgliedschaft in EU und Nato wurde nie richtig diskutiert, die Ostdeutschen mussten sich ihre Unabhängigkeit vom russischen Imperium nie erkämpfen. Das macht einen grossen Unterschied, auch was die Unterstützung der Ukraine angeht.
In Ihrem Buch wenden Sie sich gegen die bisher dominante Erzählung, dass Ost und West immer mehr zusammenwachsen. Welche Folgen hat es, dass Unterschiede bleiben?
Nicht alle Unterschiede sind problematisch, manche sind Teil eines normalen Regionalisierungsprozesses. Andere aber zersetzen womöglich unsere Demokratie.
Sie haben für die neue Ost-Identität einen listigen Begriff geprägt: Ossifikation.
Das ist ein Begriff aus der Medizin, der die Vernarbung und Verknöcherung nach einem Bruch meint. In Ostdeutschland ist nach vielen Brüchen viel Narbengewebe entstanden. Das führt womöglich dazu, dass man nicht mehr so beweglich ist, zeigt aber auch eine Heilung an. Und mit dem Ossi ist es natürlich schön doppelbödig.
Der Eigensinn des Ossis ist ja auch längst eine Gegenerzählung, nicht?
Fragt man die Deutschen, ob es Unterschiede in Ost und West gibt, sagen im Westen die meisten Nein, im Osten Ja. Für viele Ostdeutsche ist der Prozess der Wiedervereinigung nicht abgeschlossen, für viele Westdeutsche hingegen längst Geschichte. Darin liegt für die Ostdeutschen eine Kränkung, sie beharren auf Unterschieden, die man im Westen gar nicht mehr wahrnehmen möchte. Es ist wie in einer Beziehung: Wenn der eine sagt, wir haben ein Problem, und der andere antwortet, ich weiss gar nicht, wovon du redest, dann haben wir wirklich ein Problem. In einer solchen Lage stecken wir gerade.
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