Die Olympia-Siebte an der Tour de FranceSie wagte den mutigen Schritt, nun blüht sie auf
Noemi Rüegg fährt in dieser Saison so stark wie noch nie. Das verdankt die 23-Jährige der Schinderei im Kraftraum – und einer Prise Egoismus, weil sie spürte: Ich kann mehr.
Es muss schnell gehen, sehr schnell. Eben noch feiert Noemi Rüegg am Fuss des Eiffelturms ihr olympisches Diplom nach dem Strassenrennen. Nun öffnet sie die Tür ihrer Wohnung. Da steht nicht nur «Noemis Homebase – gegründet 2023» auf der Fussmatte. Eine Willkommensbotschaft schmückt den Vorplatz, von ihren Fans mit bunter Kreide aufgemalt. Ihre Familie, ihr Veloclub – ja die ganze Gemeinde hat die Olympionikin bei ihrer Rückkehr empfangen.
Die mit 158 Zentimetern eher kleine Sportlerin ist hier im Wehntal eine Grösse – gleich drei benachbarte Gemeinden beanspruchen sie als eine von ihnen: Oberweningen, wo Rüegg aufgewachsen ist, Steinmaur, wo ihre sportlichen Wurzeln im Veloclub liegen, und Schöfflisdorf, wo sie seit kurzem lebt.
Und da steht sie also in der Tür. Am rechten Fuss eine schwarze, am linken eine gestreifte Socke: «Es musste schnell gehen», sagt sie und grinst. Eine Szene, die nicht einmal eine Woche her ist. Seither hat die 23-jährige Profisportlerin bereits drei Etappen der Tour de France Femmes in den Niederlanden in den Beinen.
Daheim in Schöfflisdorf nimmt Rüegg am Esstisch Platz, hinter ihr hängt Sportwäsche zum Trocknen, neben ihr die Reisetaschen, kaum ausgepackt. «Das Chaos tut mir leid», sagt die junge Frau. Gedankenverloren streicht sie sich über den rechten Daumennagel. Er ist weiss lackiert, verziert mit den olympischen Ringen. Zumindest ein kleines Chaos herrscht auch in Rüeggs Gefühlswelt: «Ich kann noch nicht glauben, was ich erreicht habe – und schon geht es weiter», sagt sie, hin- und hergerissen zwischen dem Olympia-Abschied und der Tour-Vorfreude.
Tatsächlich geht es für die Zürcherin seit Saisonbeginn Schlag auf Schlag: acht internationale Top-Ten-Klassierungen, ein erster Profisieg, ein Schweizer-Meister-Titel – und ebendieser 7. Platz an den Spielen in Paris. Noch in keiner Saison gelang es Rüegg, so viele Ausrufezeichen zu setzen. Das liegt nicht nur daran, dass sie im Winter mehr Krafttraining im Programm hatte – und noch weniger ist es ein Zufall.
Rüegg fährt seit 2024 in ihrer neuen Equipe EF Oatly-Cannondale. Zuvor war sie zwei Jahre lang beim renommierten Team Jumbo-Visma eine der Arbeitsbienen der Radsportkönigin Marianne Vos. «Zu Beginn war es genau, was ich brauchte, um die internationale Rennwelt kennen zu lernen und darin anzukommen», sagt sie. Doch dann blieb Rüegg in dieser Rolle stecken. «Ich spürte, dass ich viel mehr konnte als das, was ich tun durfte.» Deshalb habe sie in ein anderes Team wechseln wollen. Doch einfach ist ein solcher Bruch für die 23-Jährige nicht. Dafür schätzt sie die Menschen um sich herum zu sehr. «Der Schritt hat Mut gebraucht.»
Und er hat sich offensichtlich gelohnt, denn bei EF bekommt Rüegg mehr Freiheiten, dort nimmt sie die Rolle einer Leaderin ein. Ihr neues Team ist weniger strikt organisiert als das niederländische Topteam um Vos. «Sie wollen, dass wir Fehler machen und daraus lernen», sagt sie.
So lautet das Motto der Fahrerinnen im pinken Dress, zu denen auch die Olympiasiegerin Kristen Faulkner gehört: Happy head, fast legs (glücklicher Kopf, schnelle Beine). Zudem können die EF-Fahrerinnen die Rennen je nach Tagesform mitgestalten. «Für uns bedeutet es, dass wir Verantwortung mittragen, aber auch Chancen bekommen», sagt Rüegg.
Noemi Rüegg: «Sie wollen, dass es mir gut geht – egal, als wievielte ich ins Ziel fahre»
Eine davon hat sie gleich bei ihrem ersten Einsatz für EF genutzt – und in Spanien den ersten Profisieg eingefahren. «Ein Glück, so hat das Team gleich von Beginn an an mich geglaubt.» Es ist typisch für Rüegg, dass sie von «Glück» spricht, wo andere selbstbewusst ihr eigenes Können anführen würden. Die junge Frau kämpft immer wieder um ihr Selbstvertrauen. Etwa als es um die Olympianomination geht und sie der Sache bis kurz vor der Abreise nicht traut und sich fragt: «Was, wenn sie mich aus irgendeinem Grund doch nicht mitnehmen?»
Es ist unter anderem ihr christlicher Glaube, der sie stützt, wenn Selbstzweifel an ihr nagen. «Er hilft mir, mich darauf zu besinnen, dass ich ein Mensch bin und mich nicht nur über meine Leistungen auf dem Velo definiere», sagt Rüegg. Aber auch die Familie spielt dann für sie eine bedeutende Rolle. «Sie wollen, dass es mir gut geht – egal, als wievielte ich ins Ziel fahre, das ist ein wertvolles Gefühl.» So wie in Paris, als Mutter Corinne und Bruder Silas am Fuss des Eiffelturms auf sie warteten. Oder wenn sie mit Vater Peter – mit dem sie bis vor kurzem gemeinsam mit Bruder Timon in einer WG lebte – Minigolf spielt und sich «als normaler Mensch» fühlt.
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Ihr Vater ist es, dem die Profisportlerin die Liebe zum Radsport verdankt – und es war keineswegs Liebe auf den ersten Blick. Peter Rüegg leitete einst das Mountainbiketraining des Veloclubs Steinmaur und nahm seine Sprösslinge jedes Mal mit. «Richtig Spass hat mir das nie gemacht», erinnert sich seine Jüngste. Den Spass im Velosattel findet sie erst später in der Oberstufe, quasi auf dem Schulweg. «Da fühlte ich mich jeden Tag völlig frei.» Und so gibt sie dem Sport eine zweite Chance – und findet ihre Leidenschaft erst im Radquer und dann bei Strassenrennen.
Dieses Gefühl von Freiheit geniesst sie noch heute als Profi. Nicht jeden Tag. «Aber zum Beispiel beim olympischen Rennen im Herzen von Paris, da war es da, dieses unglaubliche Gefühl.» Noemi Rüegg streicht über die olympischen Ringe auf ihrem Daumennagel, als sie gedankenverloren sagt: «Ich lebe gerade meinen Traum.»
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