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Neue Lebensräume in Cherson
Natur erholt sich von Stau­damm-Flut­katastrophe

FILE - Houses are seen underwater in the flooded town of Oleshky, Ukraine, June 10, 2023. An AP investigation has found that Russian occupation authorities vastly and deliberately undercounted the dead in one of the most devastating chapters of the 22-month war in Ukraine - the flooding that followed the catastrophic explosion that destroyed the Kakhovka Dam in the southern Kherson region. (AP Photo/Evgeniy Maloletka, File)
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Die Bilder von überfluteten Häusern und Ortschaften, vom massenhaften Fischsterben und dem zerstörten Kachowka-Staudamm am Dnipro haben sich bei den Ukrainern neben anderen Gräueln des russischen Kriegs tief ins Gedächtnis eingebrannt. Ein Jahr nach der Zerstörung des Staudamms, der ohne die im dritten Jahr andauernde russische Invasion noch stehen würde, sind die Folgen der Katastrophe vom 6. Juni 2023 zwar weithin sichtbar. Aber nach Einschätzung von Ökologen hat sich die Natur auch behauptet. Die anfangs befürchtete grossflächige Wüstenbildung ist ausgeblieben.

Experten bei der Umweltschutzorganisation Ukrainian Nature Conservation Group (UNCG) schwärmen, dass sich inzwischen neue Habitate herausgebildet hätten. Die Organisation kann dem geplanten Wiederaufbau des Staudamms nicht viel abgewinnen, weil sie befürchtet, die Reservate könnten austrocknen. Weil der Stausee nicht mehr existiere und das Wasser vom Dnipro Richtung Schwarzes Meer fliesse, werde der Nationalpark Welyki Luh zum ersten Mal seit 90 Jahren durch das Frühjahrshochwasser als Feuchtgebiet wieder kräftig bewässert, sagt der Biologe Iwan Mojsijenko.

Die Ökosysteme erholten sich, es bildeten sich anders als befürchtet keine Wüsten, sondern wieder weitflächige Sumpfgebiete, Auenlandschaften wie vor dem Volllaufen des Reservoirs am Staudamm, den die Kommunisten 1956 zu Zeiten der Sowjetunion fertigstellten.

ZAPORIZHZHIA OBLAST, UKRAINE - MAY 16: A general view of dried-up lands of Kakhovka Reservoir, overgrown with thick vegetation on May 16, 2024 in Zaporizhzhia Oblast, Ukraine. After the Kakhovka Dam was blown up on June 6, 2023, water from the Kakhovka Reservoir flowed downstream, destroying towns, villages, and all life in its path. On the site of the former Reservoir, on 150,000 hectares of dried-up lands, a thick forest has grown in almost a year. The vegetation here is diverse: a larger area is occupied by willow trees 2.5-3 meters high, rumex aquaticus and celtis occidentalis. Over time, according to ecologist Vadym Manyuk, the number of trees and plants will decrease, and new types of plants will be sown such as elm and  pedunculate oak. (Photo by Yurii Tynnyi/Suspilne Ukraine/JSC "UA:PBC"/Global Images Ukraine via Getty Images)

Auch am Grund des früheren Stausees habe sich ein neues Ökosystem gebildet. «Das ist ein vitales Ereignis der Biodiversität», sagt Mojsijenko. Das Wasser bringe organisches Material, das die Böden anreichere – und spüle Pflanzensamen an. Das helfe der Vegetation, sich zu erholen. Dadurch entstehe ein wichtiger Lebensraum für Wasservögel und andere Tiere.

Ungeheure Zerstörung

Vor einem Jahr in der Nacht zum 6. Juni brach der Staudamm des Kachowka-Wasserkraftwerks am Unterlauf des Fluss Dnipro, mutmasslich durch eine Detonation. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski warf Russland vor, den Staudamm vermint und gesprengt zu haben.

Dagegen behauptete Kremlchef Wladimir Putin, der mit seinem Krieg den grössten Teil des Gebiets besetzt hält und die Region Cherson annektiert hat, die Ukraine selbst habe durch Beschuss mit Raketenwerfern die Staumauer zerstört. Experten hatten auch darauf hingewiesen, dass der Staudamm schon vor dem Krieg marode gewesen sei. Der Druck des angestauten Wassers habe demnach ebenfalls eine Rolle spielen können.

Gut 18 Kubikkilometer Wasser flossen innerhalb von etwa vier Tagen ab und überschwemmten auf ihrem Weg ins Schwarze Meer mehr als 80 Siedlungen auf über 80’000 Hektaren Land. Mehr als 60 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt; Hunderttausende verloren ihr Hab und Gut. Zehntausende Tiere verendeten. Rund eine Million Menschen verlor zudem den Zugang zu sauberem Wasser. Im Oktober bezifferte die Regierung die Schäden auf umgerechnet rund 12,9 Milliarden Euro.

Mit Industrieabfällen überschwemmt

Die Flut überschwemmte Ackerflächen; Bewässerungssysteme für die Landwirtschaft wurden in der dortigen Kornkammer der Ukraine zerstört. Im Gebiet Cherson spülte das Wasser Unmengen an Schlamm aus mit Schwermetallen belasteten Industrieabfällen über das Land. Die Umweltkatastrophe traf Böden, die zu den fruchtbarsten in Europa gehören. Verwüstet wurde nicht zuletzt die einzigartige Pflanzenwelt im Delta des Dnipro-Flusses. Öl, Schmiermittel und andere giftige chemische Substanzen verschmutzten das Wasser.

Präsident Selenski sprach damals von der grössten menschengemachten Umweltkatastrophe der vergangenen Jahrzehnte in Europa. Er verglich sie mit den Folgen des Einsatzes einer «Massenvernichtungswaffe». Doch Wissenschaftler bemühten sich stets um nüchterne Einschätzungen.

«Endlos grünes Meer»

Gut ein Jahr nach dem Dammbruch ist vom Stausee, der etwa 60 Jahre lang zu den grössten Reservoirs des Landes gehört hatte, nichts mehr zu sehen. «Ein endloses grünes Meer aus Weiden, das ist unglaublich», beschreibt auch der Ökologe Wadim Manjuk am Stauseeufer die Lage in einer Reportage des ukrainischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Im Durchschnitt hat sich auf dem ehemaligen Seegrund ein Weidenwald von 2,5 bis 3,5 Meter Höhe entwickelt. «Das war absolut erwartbar, denn das ist ein Pionierbaum, der immer in Flusstälern auf sandigen Böden zu finden ist», erklärt Manjuk.

Biologist Vadym Maniuk poses at a partly dry area of Kakhovka Reservoir, outside Zaporizhzhia, on November 8, 2023, amid the Russian invasion of Ukraine. A hundreds-strong team of ecological investigators is dispatched in the southern Kherson region to build a case, which Ukraine hopes to take to the International Criminal Court (ICC), following the extensive flooding caused after the Kakhovka dam was partially destroyed on June 6, 2023, in a series of early morning blasts. Ukraine says Russia blew up the dam and that the extent of the environmental damage constitutes a war crime. (Photo by Roman PILIPEY / AFP)

Die Weide habe nach dem Weggang des Wassers ideale Bedingungen vorgefunden. Am Boden finden sich aber zudem auch Schilfrohr, und aus den Bodenrissen spriesst auch Wasser-Ampfer. Durch die zunehmende Trockenheit werden diese aber wohl mit der Zeit verschwinden, und es bleibe ein Wald aus Weiden.

Das Fachmagazin «Science» wies in einer grossen Analyse darauf hin, dass immer noch viel Biomaterial wie Muscheln am Boden verwese. Zudem gebe es die potenzielle Gefahr, dass sich durch die vielen kleineren Gewässer nun Mücken, die Krankheiten übertragen, und andere blutsaugende Insekten ausbreiten könnten. Erwartet wird zudem, dass sich die Region aufheizt, weil der kühlende Effekt des Stausees fehle.

Weiterhin viele Gefahren

Schon im vergangenen Jahr beklagten die UNCG-Experten verheerende Schäden für die Natur mit ihren einzigartigen Biotopen: seltene Ameisen­populationen, Reptilien und Amphibien, Nistplätze für Vögel, aber auch Säugetiere seien vernichtet worden. 70 Prozent des Lebensraums der Birkenmaus (Sicista loriger) waren demnach überflutet und damit verloren, befürchtet wurde ein Aussterben der Art. Auch die Hälfte der Population der Sandblindmaus (Spalax arenarius) sei zerstört, schrieben die Experten der Organisation in einem Bericht.

Einen kompletten Überblick über die Umweltsituation und Schäden haben die Wissenschaftler bislang nicht. Erschwert wird die Lage dadurch, dass Russland weite Teile des Gebiets Cherson durch seinen Krieg gegen die Ukraine besetzt hält. Russische und ukrainische Truppen schiessen in der Region aufeinander. Die russische Seite hatte die Folgen der Katastrophe auch stets heruntergespielt, Thema ist das in Moskau kaum noch.

Noch immer ist es zu gefährlich für die Forscher, die Wasserqualität zu messen und die Schäden aufzunehmen. Durch die Flut vor einem Jahr wurden auch gefährliche Sprengsätze aus den verminten Böden gespült und verteilt. Erst wenn der Krieg vorbei ist, heisst es auch bei der Organisation UNCG, könnten die kompletten Auswirkungen der Kämpfe auf die Umwelt untersucht werden. Klar ist aber: Die Umweltschäden des Krieges reichen weit über den Fall des zerstörten Staudamms hinaus.