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Nach Dammbruch in der Ukraine
Hunderttausenden fehlt Trinkwasser – und jetzt spült die Flut Minen frei 

Nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms: Überschwemmte Gebiete in der Stadt Cherson. 
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Bereits im vergangenen Herbst stand die Frage im Raum, welche Auswirkungen eine mögliche Zerstörung des Kachowka-Staudamms durch das Kriegsgeschehen in der Ukraine haben könnte. Damals beschuldigten sich Russland und die Ukraine gegenseitig, den Damm sprengen zu wollen. Eine Gruppe schwedischer Ingenieure entwarf daraufhin ein Szenario, das sich furchterregend liest: Das Wasser würde schneller aus dem Stausee strömen als die Niagarafälle. Innerhalb von 19 Stunden würde eine vier bis fünf Meter hohe Wasserwelle die Grossstadt Cherson treffen. Das sagte die von der Firma Dämningsverket veröffentliche Studie voraus.

Die Realität hat nun die Berechnungen übertroffen. «Es sieht so aus, als ob das Realszenario noch schlimmer war als in meinem Model», sagte Henrik Ölander-Hjalmarsson, einer der Ingenieure, der «Washington Post». Der Grund: «Der Wasserstand im Stausee war deutlich höher als in meinem Modell.»

Mehr als 30’000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde sollen aus dem Stausee strömen. Die Wasserpegel steigen stetig. Bis Donnerstagvormittag werde das Wasser noch um einen Meter ansteigen, sagte der Sprecher der Chersoner Militärverwaltung, Olexandr Tolokonnikow, im ukrainischen Fernsehen. Ausserdem besteht die Sorge, dass der Staudamm weiter bricht. (Lesen Sie auch den Artikel «Flut trifft Grossstadt, die bereits vom Krieg gezeichnet ist».)

Verheerend für Ökosystem der Südukraine

Auf die Frage nach konkreten Folgen der Flutkatastrophe antwortete der stellvertretende Leiter der Regionalverwaltung von Cherson, Juri Sobolewski, der staatlichen Nachrichtenagentur Ukrinform, dass es keine vollständige Übersicht über das Ausmass der Zerstörungen gebe. Die Auswirkungen auf die Umwelt seien jedoch «kolossal». Seinen Aussagen zufolge wird der Wasserspiegel im Kachowka-Stausee langfristig sinken, was das Ökosystem der gesamten Südukraine negativ beeinflussen werde. Schon jetzt stelle die Versorgung der lokalen Bevölkerung mit Trinkwasser ein zunehmendes Problem dar, sagte Sobolewski.

Mehr als 42’000 Menschen auf beiden Uferseiten des Dnjepr sind von Überschwemmungen bedroht, wie der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski verlauten liess. Hunderttausende Menschen sind ohne Trinkwasserversorgung. 80 Ortschaften sind von Überflutungen betroffen oder bedroht. Darunter auch die kleine Stadt Oleschki, die nach Angaben des von Russland eingesetzten Statthalters nahezu vollständig überschwemmt ist.

In der russisch besetzten Stadt Nowa Kachowka sollen heute Nachmittag etwa 100 Menschen in den Wassermassen eingeschlossen sein. Die Stadt liegt direkt neben dem Staudamm. Rettungseinsätze für diese Menschen liefen, sagte der von Moskau eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew. Auf beiden Seiten des Flusses sollen bisher knapp 3000 Menschen in Sicherheit gebracht worden sein.

Vor allem für die Landwirtschaft in der Südukraine wird der Staudammbruch verheerende Auswirkungen haben, denn die Felder wurden seit den 1950er-Jahren durch Kanäle bewässert, die sich auch aus dem Stausee speisen. Diese Felder könnten sich im kommenden Jahr in Wüsten verwandeln, weil die Wasserversorgung in den Gebieten Dnipropetrowsk, Cherson und Saporischschja gekappt worden sei, heisst es vonseiten der ukrainischen Regierung. (Lesen Sie auch den Artikel «Natur als Kriegswaffe».)

Die Staudammkatastrophe bedroht auch die globale Ernährungssicherheit.

Auf 584’000 Hektaren Anbaufläche seien rund vier Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten geerntet worden. Rund 10’000 Hektaren Felder seien allein auf der rechten, von der Ukraine kontrollierten Uferseite in der Oblast Cherson überflutet worden. Deutlich mehr Anbauflächen würden auf der linken, von Russland kontrollierten Seite unter Wasser stehen.

Die Staudammkatastrophe bedroht auch die globale Ernährungssicherheit. Die Welternährungsorganisation (WFP) warnt vor verheerenden Konsequenzen für hungernde Menschen weltweit. «Die massiven Überflutungen vernichten neu angepflanztes Getreide und damit auch die Hoffnung für 345 Millionen Hungerleidende, für die das Getreide aus der Ukraine lebensrettend ist», teilte die WFP mit.

Wassermassen verbreiten Minen

Nach Informationen der ukrainischen Regierung sind ausserdem mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Dnjepr gelangt. 300 weitere Tonnen Öl drohen noch auszulaufen. Welche Auswirkungen das für die Umwelt haben wird, ist noch nicht abzusehen. (Beachten Sie zum Thema auch den Artikel «Die Flut in der Südukraine in Karten und Grafiken».)

Aber die Liste der Schäden wird immer länger: Die ukrainische Umweltbewegung hat in einer Zusammenfassung auf die vielen Probleme hingewiesen, die durch die Überflutungen von Abwassersystemen entstehen können. So könnten etwa Schadstoffe aus Industriebetrieben in der Nähe des Dnjepr ins Schwarze Meer gespült werden. Mehrere Nationalparks sollen von der kompletten Zerstörung bedroht sein, darunter befinden sich auch der Oleschki-Sande-Nationalpark sowie das Biosphärenreservat Schwarzes Meer.

Eine Gefahr kommt noch dazu: überflutete Minenfelder. Teile der Oblast Cherson sind vermint, weil Russland sich dort auf ukrainische Gegenangriffe vorbereitet. Minen können von den Wassermassen unkontrolliert verbreitet werden und beim Aufprall auf Bäume oder Gebäude detonieren. Sprengstoffexperten sollen bereits in die Gegend entsandt worden sein, um bei der Beseitigung der Minengefahr zu helfen.