Interview mit russischem Historiker«Das System Putin wird selbst den Tod Putins überleben»
Sergei Medwedew ist überrascht, dass selbst eine Viertelmillion getötete oder verletzte russische Soldaten nichts an der Haltung seiner Landsleute geändert hat. Er hofft dennoch auf die vollständige Niederlage Russlands.
Herr Medwedew, Sie leben seit über einem Jahr im Exil. Wann genau entschieden Sie, Russland zu verlassen?
Das war in den Morgenstunden des 24. Februar 2022, gleich nach Beginn des Überfalls auf die Ukraine. Ich wusste, dass ich in diesem Russland nicht bleiben kann.
Sie kennen den Westen, denn Sie haben da schon einmal gelebt.
Ich hatte Karriere im Westen gemacht, ich hatte eine Professur in Deutschland. Aber 2004 ging ich zurück nach Moskau, weil ich neue Chancen für Russland sah. Ich unterrichtete dort an der Universität, hatte eine Talkshow im Fernsehen, arbeitete für verschiedene Medien, schrieb Bücher.
In Ihrem bekanntesten Buch, «Die Rückkehr des russischen Leviathan», sehen Sie aber schon Jahre vor Kriegsbeginn die Zukunft Russlands sehr negativ.
Natürlich sah ich den Weg in den Totalitarismus unter Putin. Ich wollte trotzdem bleiben. Aber mir wurden die Lebensgrundlagen entzogen. Zuerst verlor ich den Job bei der Talkshow im Staatsfernsehen, dann die Professur an der Wirtschaftshochschule. TV-Doschd und Radio Liberty, für die ich arbeitete, mussten ihre Büros schliessen.
Wird das Regime Sie auch im Ausland verfolgen?
Das kann ich nicht wissen. Bisher wurden ja vor allem Überläufer der Geheimdienste und prominente Oppositionelle Opfer. Ich bin nur ein Liberaler aus der Intelligenzija.
Putin hat einen Krieg begonnen, den er nicht gewinnen kann. Die Sanktionen treffen das Land hart. Das Versagen ist offensichtlich, wieso kann sich Putin dennoch an der Macht halten?
Die russische Armee hat versagt, die auf Exporten basierende Energiepolitik liegt in Trümmern. Dennoch würde ich nicht von Putins Versagen sprechen. Der Krieg ist sein natürliches Habitat. Er hat seine Macht konsolidiert.
Wie kann er sich an der Macht halten? Er hat doch keine Ideologie, mit welcher er die Massen mobilisieren könnte?
Keine Ideologie wie im Nationalsozialismus oder im Stalinismus. Aber genügend Ideologie, um junge Männer in den Krieg zu treiben. Und je länger der Krieg dauert, je mehr Opfer er fordert, desto mehr werden ihn die Menschen in Russland als einzige Möglichkeit akzeptieren.
Warum?
Würden sie das nicht, müssten sie zugeben, dass sie von Anfang an falschlagen. Das wäre zu schmerzhaft. Lieber sehen sich die Russen als Opfer einer globalen Verschwörung.
Es gab einmal die Vermutung, Putins Regime würde wanken, sobald russische Mütter die Leichensäcke mit ihren Söhnen bekommen. Das war offenbar falsch?
Wie falsch das war, kam auch für mich überraschend. Eine Viertelmillion russische Soldaten wurde getötet oder verwundet. Aber das hat nichts geändert. Wir haben in diesem Jahr gelernt, dass das menschliche Leben in Russland nichts wert ist.
Dennoch gibt es keinen Widerstand im Land?
Die Elite ist mehr eingeschüchtert denn je. Ein Kollege von mir hat Russland mit einem U-Boot verglichen, das langsam auf den Meeresboden sinkt.
So wie das im Jahr 2000 gesunkene Atom-U-Boot Kursk, in dem nach einem Unfall bei einem Waffentest alle 118 Mann der Besatzung starben?
Genau. Russland ist heute wie die Kursk. Mittlerweile ist das Land so tief gesunken, dass eine Rettung sehr schwierig wird. Ich weiss nicht, ob das U-Boot Russland jemals wieder auftauchen wird. Aber es hat noch genug Luft, dass die Menschen in seinem Inneren weiterleben können, selbst wenn das Boot auf dem Meeresgrund liegen bleibt.
Gemeinsam in den Untergang? Was sagt das über das Wesen der russischen Nation?
Es gibt keine Nation. Es gibt nur den allmächtigen Staat und die russische Bevölkerung. Die Menschen haben keine Identität ausserhalb des Staates. Sie vertreten nicht ihre eigenen Interessen gegenüber diesem Staat. Deshalb akzeptieren sie den Krieg. Denn der Krieg wurde vom Staat begonnen. Und der Staat hat immer recht.
Diese Mentalität scheint sich durch die ganze russische Geschichte zu ziehen?
Es ist die Geschichte eines von der Macht besessenen Staates. Dabei hatte Russland in den vergangenen 30 Jahren alle Möglichkeiten für den Umbau zu einem modernen, liberalen Staat. Es gab ja schon Marktreformen, es gab Ansätze eines Rechtsstaats. Und vor allem: Es gab riesige Einnahmen aus den Öl- und Gasexporten. Das spülte Billionen Dollar in die Staatskasse.
Von wo sie in dunklen Kanälen verschwanden…
...während der Staat pleiteging. Das Geld wurde entweder in neue Waffen investiert oder einfach gestohlen. Mit Putins Rückfall in die imperiale Nostalgie ging die Chance auf einen modernen Staat zu Ende.
Und jetzt braucht Putin diesen Krieg, um an der Macht zu bleiben?
Ja und nein. Putin kann wohl auch nach Ende des Kriegs an der Macht bleiben.
«Wenn Russland den Krieg verliert, wird es zu einem riesigen Nordkorea.»
Selbst nach einer Niederlage Russlands?
Selbst dann. Auch Saddam konnte sich nach der Niederlage in Kuwait halten. Wenn Russland den Krieg gegen die Ukraine verliert, wird es zu einem zutiefst gedemütigten und isolierten Land. Zu einem riesigen Nordkorea. Aber die Russen sehen keine Alternative. Das System Putin wird nicht nur die Niederlage überleben, es wird auch Putin überleben. Hinter ihm steht ein starker Machtapparat, der seine Interessen zu verteidigen weiss.
Der Apparat kann einen neuen Putin erschaffen?
Russland muss so fundamental verändert werden, dafür reicht weder die Niederlage gegen die Ukraine noch der Tod Putins oder seine Auslieferung an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Der ehemalige serbische Diktator Slobodan Milosevic stand in Den Haag vor Gericht, bis er dort 2006 starb. Aber Serbien ist immer noch ein Land voller Ressentiments.
Gibt es denn für Russland kein optimistischeres Szenario?
Es gibt im Westen die Theorie eines Bürgerkriegs mit anschliessendem Zerfall der Russischen Föderation. Ich halte das für unwahrscheinlich. Die Sowjetunion zerfiel in Staaten, die es zum Teil schon zuvor einmal gegeben hat. So wie die baltischen Staaten. Aber die russischen Regionen haben noch nie die Erfahrung echter staatlicher Unabhängigkeit gemacht.
Die Möglichkeit eines demokratischen Wandels halten Sie für unmöglich?
Dass sich eine demokratisch gesinnte Elite durchsetzt? Dass Russland an die Ukraine Reparationszahlungen leistet? Dass der Oppositionelle Alexei Nawalny befreit wird und Putin mit seinen Ministern nach Den Haag geschickt wird? Ich schätze die Wahrscheinlichkeit, dass dies alles passiert, auf wenige Prozent.
Das ist immerhin eine kleine Chance.
Ich kann nur hoffen. Derzeit ist Russland auf geradezu schmerzhafte Weise unzureichend. Es benimmt sich wie ein Dinosaurier in einer modernen Welt. Aber die Zeit der Dinosaurier ist nun mal vorbei.
Der Westen spielt in Ihren Szenarien keine Rolle?
Natürlich hängt Russlands Zukunft auch vom Verhalten westlicher Staaten ab. Sie müssen jetzt alles tun, damit die Ukraine gewinnt. Russland darf keine Möglichkeiten mehr haben, andere Staaten zu bedrohen. Es muss vollständig besiegt werden. Und es muss Reparationszahlungen an die Ukraine akzeptieren. Erst danach darf der Westen mit Verhandlungen beginnen. Nicht zuvor. Leider geistert durch viele europäische Hauptstädte auch die Meinung, dass man Putin nicht zu sehr reizen und Zugeständnisse machen sollte. Dass man ihm deshalb die Krim überlassen sollte. Wer so denkt, setzt die Zukunft des Westens und der Welt aufs Spiel. Denken wir an die Geschichte: Was wäre passiert, wenn die Welt 1942 mit Hitler verhandelt hätte?
Wie sieht Ihre persönliche Zukunft aus? Wollen Sie zurück nach Moskau?
Ich sorge mich vor allem um die Ukraine. Ich bewundere die Widerstandsfähigkeit und die Energie der Menschen in der Ukraine. In diesen Tagen bin ich mehr Ukrainer als Russe. Wenn der Krieg vorbei ist, möchte ich mich am Wiederaufbau dieses Landes beteiligen. Eine Rückkehr nach Moskau kann ich mir derzeit nicht vorstellen. Das Land ist für mich zu toxisch. Wie ein riesiges Tschernobyl. Russland verkörpert das Böse auf dieser Welt.
Sie haben sicher noch Freunde oder Verwandte in Russland.
Natürlich. Ich kenne viele Menschen, die nicht so wie ich den Luxus hatten, dass sie gehen konnten. Viele leisten Widerstand auf ihre Art. Aber ich sehe auch, dass unlängst über 50’000 Menschen im Zentrum von Moskau ein Velofestival feierten. Während zur selben Zeit Raketen auf Kiew fielen und dort Unschuldige töteten. In Russland aber feiern die Menschen das Leben, als würde es den Krieg gar nicht geben. Moskau war die Stadt, in der ich lebte und liebte. Es tut mir sehr weh, dass sie heute so gleichgültig gegenüber dem Schmerz der anderen ist.
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