Straftäter im RegierungsamtMuss man Pierre Maudet verzeihen? Politologen antworten
Das Volk hat den Genfer Staatsrat trotz Straftat rehabilitiert und zurück ins Amt gewählt. Nun stellt sich die Frage, wie man mit ihm umgehen soll. Ein Satz lässt dabei aufhorchen.
Der eine war gereizt. Der andere beleidigt. So sassen Antonio Hodgers und Pierre Maudet am Sonntagabend Seite an Seite im Studio des Westschweizer Radios RTS. Je länger Hodgers sprach, desto zerknirschter wirkte Maudet. Dabei hätten in diesem Moment beide allen Grund gehabt, euphorisch zu sein. Die Genferinnen und Genfer hatten sie einmal mehr in die Regierung gewählt. Der 2021 als Staatsrat abgewählte Maudet erhielt diesen Sonntag eine zweite Chance, allen Lügen und Skandalen zum Trotz.
Doch Hodgers drängte im Radiostudio darauf, Vergangenes nicht zu vergessen. Er wiederholte, was er schon in Wahlkampfdebatten gesagt hatte: Er fühle sich in seinen politischen Werten verletzt, weil sich Maudet der Korruption schuldig machte, die Institutionen belog und während vier Jahren auf organisierte Weise Steuern hinterzog. Hodgers kritisierte auch die Medien, sie hätten Maudets Vergangenheit während des Wahlkampfs schlicht verschwiegen. (Lesen Sie dazu: Pierre Maudet verhilft libanesischem Bankier zu Pass.)
Ethik und Politik
Die Regierung (mit Hodgers) hatte Maudet im Oktober 2020 sämtliche Amtsgeschäfte entzogen. «Welchen Stellenwert gibt man der Ethik in der Politik?», fragte Antonio Hodgers nun am Sonntag und gab mit der Frage gleich auch zu verstehen, dass er Maudets Wahl als eine gewisse moralische Orientierungslosigkeit interpretiere. (Unsere Analyse dazu: Pierre Maudet stillt die geheimen Sehnsüchte der Genfer.)
Maudet konterte umgehend. «Auf Moraldiskussionen lasse ich mich nicht ein. Die Herausforderungen für Genf gehen über allfällige Feindschaften hinaus.» Maudet sprach davon, gegen ihn habe ein «institutioneller Staatsstreich» stattgefunden.
Hodgers Kritik und Maudets Replik werfen wichtige Fragen auf. Gibt es in der Politik ein Recht auf Vergessen, wie es das Schweizer Zivilgesetzbuch mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte vorsieht? Darf man Pierre Maudet, den das Bundesgericht 2022 wegen Vorteilsannahme, eines Korruptionsdelikts, verurteilt hat, als Politiker weiter seine Straftat vorhalten? Soll in Genf ein Straftäter regieren, obschon die Genferinnen und Genfer ohne blütenweissen Strafregisterauszug weder Polizistin noch Lehrer werden können? Ist Maudets Wahl letztlich ein Tabubruch im schweizerischen Politsystem?
«Der Volksentscheid erlaubt Pierre Maudet einen Neubeginn.»
Auf all diese Fragen hat der Lausanner Politologieprofessor Sean Müller zunächst eine einzige, pauschale Antwort. «Das Volk hat Maudet zurück in die Regierung gewählt», sagt er. Zwar sei sein Verhalten wenig glamourös gewesen, offen sei auch, wie einsichtig Maudet wirklich sei, aber die Demokratie sei nicht auf alle Fälle vorbereitet, sie entwickle sich weiter und habe Lücken, so Politologe Müller.
Auch für Pascal Sciarini, Politologieprofessor in Genf, ist klar: «Der Volksentscheid erlaubt Pierre Maudet einen Neubeginn.» Mit der Abwahl vor zwei Jahren habe er seine Strafe verbüsst. Auch darum sieht er in der Wahl Maudets vom Sonntag keinen Tabubruch mit allfälligen Auswirkungen auf das gesamte Schweizer Politsystem. Für Sciarini, der eben sein 600-seitiges Standardwerk «Schweizer Politik: Institutionen, Akteure, Prozesse» publiziert hat, war Maudets Reise nach Abu Dhabi und die dabei begangene Vorteilsannahme auch «nicht der schlimmste Vorfall». Als weit schlimmer empfand der Politologe, «dass Maudet die Regierung, die Justiz, seine Partei und die Bevölkerung belog».
Maudet wartet auf seine Strafe
Politisch mag Maudet mit der Abwahl und einer zweijährigen «Verbannung» seine Strafe verbüsst haben. Juristisch sieht die Sache etwas anders aus. Das Bundesgericht hat den 45-Jährigen im November 2022 wegen Vorteilsannahme verurteilt. Noch fehlt aber die Strafe. Diese muss das Genfer Kantonsgericht festlegen, das Maudet ursprünglich freigesprochen hatte.
Als Höchststrafe für das Vergehen, das in den Katalog der Korruptionsdelikte gehört, ist ein unbedingter Freiheitsentzug von drei Jahren vorgesehen. Davon, dass Maudet seine Amtsgeschäfte bald aus einer Gefängniszelle in Champ-Dollon führen muss, ist dennoch nicht auszugehen.
Ebenso wenig ist aber zu erwarten, dass das Gericht Maudet straflos verurteilt, was gemäss Strafgesetzbuch zumindest theoretisch möglich wäre und Maudets Anwälte womöglich auch gefordert haben. Maudet dürfte eine saftige Geldstrafe, bedingt oder unbedingt ausgesprochen, bezahlen und happige Prozesskosten berappen müssen. Der Strafentscheid dürfte in Kürze öffentlich werden und kann ans Bundesgericht weitergezogen werden.
Auch im Fall des verurteilten Genfer Staatsrats gelten am Ende die übergeordneten Ziele des Schweizer Strafgesetzbuchs. Dazu gehört, dass die Justiz an Straffälligen keine Rache übt, dass diese aber ihre Fehler einsehen, ihr Verhalten ändern und zum Schutz der Gesellschaft und aus Gründen der Strafprävention das begangene Unrecht wiedergutmachen müssen und dann die Möglichkeit haben, sich in die Gesellschaft zu reintegrieren.
«Ein Recht auf Vergessen hat Pierre Maudet wohl nicht, eher ein Recht auf Vergebung.»
Sean Müller und Pascal Sciarini sind sich darin einig, dass auch ein straffällig gewordener Politiker das Recht habe, in ein öffentliches Amt zurückzukehren. «Einen Unterschied zwischen Staat und Privatwirtschaft gibt es da nicht», so Sciarini. Weil man Maudets Strafe noch gar nicht kennt und er das begangene Unrecht darum noch nicht wiedergutmachen konnte, haben die Genfer Wählerinnen seine Reintegration in gewisser Weise beschleunigt und sich dabei fast biblisch verhalten. Im Lukasevangelium versichert Jesus: «Es wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Busse tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Busse nicht bedürfen.»
Ein Recht auf Integration zu haben, bedeutet für einen Politiker jedoch nicht, ein Recht auf Vergessen durchzusetzen. Politiker gelten als Personen des öffentlichen Lebens und müssen sich auch kritische Erinnerungen an ihre Vergangenheit gefallen lassen. Auch darum sagt Politologieprofessor Sean Müller: «Ein Recht auf Vergessen hat Pierre Maudet wohl nicht, eher ein Recht auf Vergebung.» Dafür müsse er aber öffentlich Einsicht zeigen, dass sein Verhalten falsch gewesen sei. «Dass er das tut, erkenne ich nicht wirklich», so Müller.
Genau darum bemühte sich Maudet am Sonntag nach Kräften. In einer Journalistenrunde sagt er: «Glauben Sie wirklich, dass eine Zeit, wie ich sie erlebte, nichts mit einem macht?» Weil sich Maudet in seinen Aussagen vor allem auf sich selbst bezog, schwang auch Selbstmitleid mit. Seine Verletzungen seien verheilt, versicherte der 45-Jährige. Und: «Die Zähler sind nun wieder auf null gesetzt.»
Schluss mit den Geschenken
Pascal Sciarini ist am Sonntag vor allem eine Äusserung Maudets aufgefallen. Nach seinem Auftritt mit Regierungskollege Hodgers im Westschweizer Radio durfte Maudet in der Westschweizer Tagesschau allein auftreten. Was er denn aus der Vergangenheit gelernt habe, wollte Moderatorin Fanny Zürcher von Maudet als Letztes wissen. «Es wird keine Geschenke geben», antwortete dieser. Man konnte Maudets Satz so verstehen, dass er keine Geschenke mehr annehmen werde, musste ihn aber eher so deuten, dass er niemandem politische Geschenke machen werde.
«Ich habe Zweifel, dass sich Pierre Maudet geändert hat», sagt Pascal Sciarini darum. Und so wird Maudet im Regierungsamt wohl das sein, was seine vermutliche Strafe aus ihm macht: ein straffällig gewordener Bürger und Politiker auf Bewährung.
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