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Nach dem Tod von Muriel Furrer
«Das ist alles so krass» – an der WM ist nichts mehr wie vorher

Schwierige Momente für die Schweizer Fahrerinnen: Am Start des Elite-Rennens wird Muriel Furrer gedacht.
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Am frühen Morgen herrscht am Sechseläutenplatz gespenstische Stille. Zuschauer sind keine da, die Volunteers stehen in Gruppen zusammen. Es scheint, als sei mit Muriel Furrers tragischem Tod auch der Esprit dieser Rad-WM erloschen. Passend dazu weint der Himmel.

Die Para-Athleten sind die Ersten, die an diesem Samstag ihre Rennen starten. Die WM soll weitergehen – das war der Wunsch von Furrers Familie. Vor jedem Rennen wird der 18-Jährigen mit einer Schweigeminute gedacht. Auf dem Sechseläutenplatz wird diese mit Applaus beendet. Zuvorderst die drei Schweizer um Heinz Frei, der zu seiner letzten WM startet. Der Routinier kämpft während der Schweigeminute mit den Tränen und sagt später im TV-Interview: «Plötzlich war alles nur noch Nebensache. Ich habe meiner Frau versprochen, einfach heil ins Ziel zu kommen.»

Stille beim Sechseläutenplatz: Schweigeminute vor dem Start der Para-Rennen am Samstagmorgen.

Um 10.45 Uhr startet das zweite Rennen des Tages, mit dabei Franziska Matile-Dörig, ein schwarzes Band am Oberarm. Die Appenzell-Innerrhoderin kämpft und behauptet sich lange an der Spitze – wie sie später sagen wird, «für Muriel». Dann die Schrecksekunde: die Fahrerin vor Matile-Dörig bremst, die Schweizerin touchiert ihr Hinterrad, ihr Velo bricht aus, die Schweizerin geht zu Boden. Eine Szene, die den Zuschauerinnen und Zuschauern das Blut in den Adern stocken lässt. Nicht schon wieder. Die Para-Cyclerin rappelt sich auf und steigt wieder aufs Rad. Und nicht nur das. Franziska Matile-Dörig fährt Silber ein – den Zeigfinger erst am schwarzen Band an ihrem Arm, dann zum Himmel gestreckt.

Es regnet auch vier Stunden später in Uster. Kurz vor dem Start des Frauenrennens um 12.45 Uhr öffnen sich die Himmelsschleusen. Die Schweizer Fahrerinnen tragen Trauerflor. «Ich glaube, es ist im Sinn von Muriel, dass wir heute starten», sagt Noemi Rüegg. Die 23-Jährige aus dem Kanton Zürich spricht von einer sehr schwierigen Situation. «Wir werden heute für sie fahren.» Das steht auch auf ihrer Startnummer: #rideformuriel.

Noch immer ist kaum etwas zum Unfallhergang bekannt. Olivier Senn, der Sportliche Leiter des Organisationskomitees, sagte gegenüber SRF: «Der Sturz scheint unbeobachtet erfolgt zu sein. Er ist nun Gegenstand der Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Kantonspolizei.» Ab der Alarmierung hätten die Prozesse hervorragend geklappt. Innert weniger Minuten sei eine Ambulanz vor Ort gewesen, die Furrer erstversorgte.

Bedrückte Stimmung am Start des Frauenrennens

Es hätte ein Velofest werden sollen. Auch hier. Nun spricht Usters Stadtpräsidentin Barbara Thalmann von einem überschatteten Anlass. Man habe probiert, dem Wunsch von Furrers Familie nachzukommen und weiterzumachen. Einige Anpassungen gibt es trotzdem. Beim VIP-Anlass wird kein Alkohol ausgeschenkt, am Eingang des Zelts liegt ein Kondolenzbuch, in das sich schon einige Leute eingetragen haben. Im Festzelt daneben haben sich neun Belgier niedergelassen, stossen mit Bier an. Seit einer Woche sind sie in der Schweiz – und wildentschlossen die Fahrerinnen und Fahrer im hellblauen Belgiertrikot laut anzufeuern. «Was geschehen ist, ist so traurig und es kann jeder und jedem im Feld passieren», sagt einer. «Und genau darum brauchen die Athleten jetzt alle Unterstützung.»

Geschlossen haben sich die sechs Schweizerinnen zuvorderst an der Ziellinie aufgereiht. Arm in Arm verharren sie während der Schweigeminute, gesenkten Hauptes. Der Regen trommelt auf ihren Helmen, Linda Zanetti wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann rollt das Feld los. Es geht erst eine Runde um den Greifensee – dann nach Zürich auf den City Circuit.

Geschlossen am Start: Die Schweizerinnen Noemi Rüegg, Jasmin Liechti, Linda Zanetti, Elise Chabbey, Caroline Baur und Elena Hartmann (v.l.).

Als sich das Feld am frühen Nachmittag dem Bürkliplatz nähert, kommt doch so etwas wie Stimmung auf. Hier stehen die Fans Schulter an Schulter an der Strecke und feuern die Frauen lautstark an. «Sie fahren schon sehr krass», findet ein Zuschauer, «schau mal, mit diesen dünnen Reifen.» Und weg ist er, bevor man ihn fragen kann, ob er Muriel Furrers Tod mitbekommen hat.

Am nahe gelegenen Bratwurststand steht derweil eine Gruppe belgischer Fans mit Velo-Käppli und fachsimpelt. Sie finden den Unfall tragisch, aber: «Radrennen sind gefährlich. Und der Zirkus muss weitergehen.» Für sie sei es nie zur Diskussion gestanden, an diesem Samstag nicht an der Strecke zu stehen und der Weltmeisterschaft beizuwohnen.

Eine Gruppe belgischer Fan sucht beim Wurststand am Bürkliplatz Schutz vor dem Regen. Sie sind für das Rennen angereist.

Das knatternde Geräusch von Helikopter-Rotoren begleitet das Feld. Von dort oben fängt eine der zahlreichen Kameracrews TV-Bilder ein. Am Rennweg bleiben die Leute wegen des Geräusches stehen, einige treten sogar aus den Geschäften, blicken zum Himmel. «Schon wieder ein Unfall?», fragt eine Frau in die Gruppe. «Das ist alles so krass», antwortet ihre Begleiterin. Dann gibt jemand Entwarnung: «Das ist ein Presseheli.»

Eine Gruppe italienischer Fans hat in der Küferstube am Limmatquai eine Zuflucht gefunden und singt lauthals zu Akkordeonklängen. Auf dem Tisch steht ordentlich Rotwein. «La vita e bella», singen sie. Der Tod der jungen Frau sei schlimm. «Aber so ist der Radsport», finden auch sie. Dann kommen die Fahrerinnen, alle springen auf und an den Streckenrand. «Italia, Italia», skandieren sie. Kaum ist das Feld durch, gehts zurück an den Tisch – und zum Wein.

Mit Akkordeon und gutem Wein: So feiern die italienischen Fans den Radrennsport.

Der TV-Helikopter nimmt Kurs auf die Zürichbergstrasse, dort wo es an der Steigung erstmals für die Fahrerinnen ans Eingemachte geht. Viermal kommen sie hier vorbei – das lockt die Fans an. Trotzdem wundert sich ein Deutscher über die «laue Stimmung». Die Bevölkerung, erklärt er seiner Begleiterin, stehe der Veranstaltung wohl kritisch gegenüber. Aber vielleicht hat er einfach eine Eigenschaft des hiesigen Publikums nicht verstanden: Der Applaus wird umso lauter, je chancenloser die Fahrerinnen sind, die sich den Anstieg hochkämpfen.

Das Feld nimmt den Anstieg der Zürichbergstrasse in Angriff.

Etwas weiter bergwärts, an der Kreuzung Plattenstrasse, kommt zum ersten Mal Volksfeststimmung auf. Hier sind sie entschlossen, zu feiern. Aus den Boxen dröhnen Gute-Laune-Hymnen wie Helene Fischers «Atemlos durch die Nacht». Später posaunen die Toten Hosen heraus: «An Tagen wie diesen». Doch an diesem Tag ist alles irgendwie anders.

Polnische Fans haben eine lange Flagge an die Banden gehängt. Die Zeit, bis das Feld zum nächsten Mal vorbeikommt, verbringen sie mit Bratwurst und viel Bier. Der Unfall scheint hier weit weg, der Regen kümmert keinen. Dann rast die Ambulanz mit Blaulicht vorbei – und kurz stockt nun doch allen der Atem.

Die polnischen Fans haben klar gemacht, das hier ist ihre Kurve.

An die zehn Kilometer weiter zwischen Zumikon und Küsnacht kurz vor dem Waldabschnitt, in dem sich vor zwei Tagen der tödliche Unfall ereignete, haben sich Niederländer mit ihren Wohnmobilen eingerichtet. Hier braten einige Würste, daneben gucken andere das Rennen am TV.

Zufallstreffen unter Niederländern: Sie haben bei einem Bauernhof eine Bleibe direkt am Strassenrand gefunden. Hans Vermieulen ganz rechts und Conchita Dorgelo (3.v.r.).

Sie stehen an bester Stelle, kurz vor einem knackigen Anstieg. Mit einem Plakat haben sie ihr Revier markiert: «We support Mathieu van der Poel» steht auf den Farben der niederländischen Flagge. Doch an diesem Tag schlagen ihre Herzen für Favoritin Demi Vollering, ihre Landsfrau und inzwischen eine Wahlschweizerin. Die niederländische Gruppe weiss, unweit ist Muriel Furrer verunglückt. «Ich finde dafür einfach keine Worte», sagt Hans Vermieulen. Nur so viel: «Leider sind diese Unglücke die Kehrseite der Medaille dieses Sports.»

Am Eingang der Waldpassage, in der Muriel Furrer verunglückt ist, steht am Streckenrand eine Trauerkerze.

Von «Hühnerhaut» spricht Conchita Dorgelo, die unweit von ihren Freunden im strömenden Regen steht. Auch sie eine Niederländerin, einst selbst Radrennfahrerin. Sie weiss, dass der Support für die Fahrerinnen gerade in diesen schwierigen Stunden und bei diesen garstigen Bedingungen wertvoll ist. Wie wichtig es für sie war, trotz des Schicksalsschlages an den Start zu gehen und in Gedanken bei der Verunglückten sich mit ihrem Sport zu versöhnen.

Derweil sorgt man sich auf der Quaibrücke in Zürich vor allem ums Wetter. Über dem Zürisee braut sich der nächste heftige Regenguss zusammen. Viele schauen hier einfach im vorbeilaufen und nehmen ein Handyvideo mit.

Schnell in Richtung Sechseläutenplatz, bevor die Fahrerinnen ins Ziel kommen.

Andere haben nur ein Ziel: Ja nicht den Schlussspurt der sechs Fahrerinnen in der Spitzengruppe verpassen. Sie eilen Richtung Sechseläutenplatz.

Da reihen sich am Streckenrand dicht an dicht die Menschen, über ihnen wehen die Fahnen auf halbmast. Frenetisch hauen die Zuschauenden gegen die Banden. Ein ohrenbetäubendes Crescendo peitscht die belgische Titelverteidigerin ins Ziel: Lotte Kopecky holt sich Gold, reisst die Arme in die Luft – um kurze Zeit später fast allen ihren Begleiterinnen und Begleitern in die Arme zu fallen.

Lotte Kopecky of Belgium reacts after winning the Women Elite Road Race at the 2024 UCI Road and Para-cycling Road World Championships in Zurich, Switzerland on Saturday, September 28, 2024. (KEYSTONE/Ennio Leanza)

Und dann ist plötzlich der Regen wieder da. Als hätte er gewartet, bis die Fahrerinnen im Ziel sind, strömt es nun heftig. Schlotternd stehen Weltmeisterin Lotte Kopecky, Chloe Dygert (Silber) und Elisa Longo Borghini (Bronze) auf dem Podest. Die Tristesse, die dieser WM seit dem Tod der Juniorin innewohnt, dämpft auch die Freude der Medaillen-Gewinnerinnen.

Noch bevor die Siegerzeremonie der Para-Sportlerinnen beginnt, flüchten viele vor dem Regen und der bedrückten Stimmung. Nur wenige bleiben. Unter ihren Schirmen sehen sie, wie mit den letzten Tönen des Schweizer Psalms Flurina Rigling ihre zweite Goldmedaille dieser WM abstreift – und sie in den grauen, verhangenen Himmel reckt.

Flurina Rigling widmet ihre zweite Goldmedaille der verunglückten Muriel Furrer.