Michel Friedman im grossen Interview«Die Schweiz ist kein Vorbild für eine weltoffene Gesellschaft»
Der deutsche Publizist Michel Friedman spricht über die wichtigen Themen unserer Zeit: Krieg, Demokratie, Migration, Populismus, Wokeness. Und er äussert Kritik an der Schweiz.
Michel Friedman, zeitweiliger Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses, gilt als ebenso streitbarer wie brillanter Publizist. Kürzlich hat er in einer fulminanten Gedenkrede vor dem Hessischen Landtag die Vertreter der AfD scharf angegriffen: Der Industrielle Oskar Schindler, der über 1000 Menschen vor dem Holocaust gerettet hatte, darunter Friedmans Eltern und seine Grossmutter, hätte laut Friedman die anwesenden AfD-Vertreter nur verachtet. Nun kommt der 68-jährige Friedman mit seinem biografisch-lyrischen Buch «Fremd» nach Zürich.
Kriege in Israel und der Ukraine, Putin, Trump, die AfD: Kommen Ihnen manchmal Zweifel am Menschen, an der Vernunft, am Fortschrittsglauben?
Ich würde mich als verzweifelten Optimisten bezeichnen. Die Menschheitsgeschichte ist zwar geprägt von Aggression, Barbarei und Menschenverachtung. Aber wenn man die gesamte Evolution überblickt, dann ist gewissermassen vor nicht einmal einer Mikrosekunde eine Evolution eingetreten, die mich in meinem Optimismus bestätigt.
Von welchem Moment sprechen Sie?
Mit der Aufklärung ist neben der Freiheit eine unglaubliche und zugleich wunderbare Idee, die in der Philosophie schon lange im Gespräch war, gedacht worden: die Gleichheit der Menschen. Daraus entwickelten sich Humanismus, Menschenrechte und Demokratie. In einigen wenigen Gesellschaften und Ländern ist diese Idee heute Wirklichkeit. In den meisten immer noch nicht. Zugleich müssen wir uns bewusst werden, wie angegriffen und gefährdet die Aufklärung ist.
Gefährdet durch wen?
Von aussen durch autokratische Staaten, durch Figuren wie Wladimir Putin, den chinesischen Diktator Xi Jinping sowie die Herrscher des Iran. Von innen durch Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamistische Bewegungen. Ob dieser Angriff erfolgreich sein wird, entscheidet sich in diesem Jahrzehnt. Ein zusätzlicher Angriff von innen erfolgt, weil es Digitalisierung und soziale Medien ermöglichen, die Idee der Wahrheit oder zumindest das Festhalten an Tatsachen durch die Idee der Lüge zu verdrängen. Und damit fallen wir endgültig hinter die Aufklärung zurück, die als Voraussetzung die Trennung zwischen Glauben und Vernunft, Lüge und Tatsache existenziell braucht.
Haben die westlichen Demokratien diese Bedrohung zu lange ignoriert?
Ja. Das schlagende Beispiel dafür ist Russlands Angriff auf die Ukraine im Jahre 2014. Die Annektierung der Krim unterscheidet sich im Grundsatz nicht vom russischen Angriffskrieg von 2022. Aber 2014 hat die westliche Welt versucht, den völkerrechtswidrigen Angriff zu verharmlosen, um ihn nicht als Herausforderung des eigenen Selbstverständnisses wahrzunehmen. Das ist bis heute eines der ganz grossen Probleme: Wir nehmen die Diktatoren und die Autokraten nicht beim Wort. Wir nehmen sie nicht ernst. Würden wir sie ernst nehmen, müssten wir eine ganz andere Politik betreiben. Dazu sind wir in unseren Schlaraffenländern nicht ausreichend fähig.
«Ich halte den Pazifismus für eine naive Vorstellung.»
Hätte das pazifistische Europa vor zehn Jahren Putins Russland den Krieg erklären sollen?
Ich bin kein Pazifist, ich halte den Pazifismus für eine äusserst naive Vorstellung in einer Welt, in der autoritären Staaten Krieg täglich als Mittel der Politik dient. In Deutschland waren es Regierungschefinnen und ganze Parteien, die sagten, ‹Krieg ist kein Mittel der Politik mehr›. Während sie dies behaupteten, war Krieg für andere immer ein Mittel der Politik. Ich halte diese vorweggenommene falsche These für einen der Gründe, weshalb Deutschland und die Europäische Union, aber auch die Schweiz, sich nie darauf vorbereitet haben, dass Russland seine imperialistische Aggression fortsetzt, etwa in Georgien oder durch die Unterstützung des Massenmörders Assad in Syrien.
Mit welchen Folgen?
Die deutsche Bundeswehr, aber auch die Armeen anderer europäischer Länder, darunter auch jene der Schweiz, sind eigentlich nur noch eine Parodie ihrer selbst. Wir haben uns nicht erst in den 2000er-Jahren, sondern schon seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verteidigen und dadurch entmündigen lassen, wir haben unsere eigene Verteidigung vernachlässigt und gleichzeitig immer die USA kritisiert, von deren Schutz und Wehrhaftigkeit wir abhängig waren. Erst jetzt merkt Europa, dass es endlich erwachsen werden müsste.
Wählerinnen und Wähler rechtspopulistischer Parteien nennen in Umfragen die Migration als einen der Hauptgründe für ihre politische Einstellung – das Gefühl, es kämen zu viele Fremde. Haben Sie dafür Verständnis?
Nein. Sie haben das ja selbst richtig formuliert, als Sie von einem Gefühl sprachen. Als aufgeklärter Mensch bin ich der Ansicht, dass wir Gefühle in Verstandesargumente umrüsten müssen. Wir können uns im politischen Raum nicht über Gefühle unterhalten. Denn diese Gefühle haben wiederum mit anderen Gefühlen zu tun: mit der Angst vor dem Fremden, aber vor allen Dingen mit der Angst vor der Veränderung, nicht zuletzt des eigenen Status quo. Die Aufgabe der Politiker und Intellektuellen ist es, aus Gefühlen Argumente zu machen, denn wenn man immer nur aufgrund von Gefühlen entscheidet, landet man am Ende auf einer Achterbahn der Gefühle, also im Chaos.
Was soll die Politik angesichts von Ängsten tun, die nur allzu rasch in Hass umschlagen?
Lassen Sie mich bitte noch etwas ausführen, es ist mir wichtig, bei diesem Thema differenziert zu sein. Wir können nur Verständnis für Fehlentwicklungen aufbringen, wenn wir sie uns genau anschauen. Wir alle konstruieren unsere Welten, wir alle erliegen schon als Kinder permanent Vorurteilen, die im kulturellen Gedächtnis verankert sind. Deswegen reagieren viele ganz anders auf die Migration von Personen aus New York, Paris oder London als auf die Einwanderung von Menschen aus afrikanischen oder arabischen Ländern. Wenn wir den berechtigten Anspruch haben, dass jene, die zu uns kommen, sich integrieren, muss die Politik auch dafür sorgen, dass dieser Anspruch sich durch entsprechende Integrationsmassnahmen erfüllen lässt. Länder wie Deutschland und die Schweiz sind darauf angewiesen, dass Hunderttausende Menschen kommen, um sie angesichts des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels zu retten.
Wie liesse sich Einwanderung besser steuern?
Deutschland hat sich nie proaktiv als Einwanderungsgesellschaft definiert und etwa ein Punktesystem geschaffen wie Australien oder Kanada. Stattdessen sind wir in eine Situation geraten, in der viele Menschen nicht nur finden, es kämen zu viele Einwanderer, sondern auch, das alles sei absolut chaotisch und ineffektiv organisiert.
«Ich sehe, Sie gehen sofort in die Defensive.»
Aber nochmals, was machen wir mit all den Leuten, die offensichtlich …
… wenn ich noch etwas hinzufügen darf: Ihr Schweizer habt es euch da zu einfach gemacht mit eurem Saisonnier-Statut.
Das gibt es schon lange nicht mehr.
Lange ist relativ. In der Schweiz dürfen nur die Nützlichen kommen, und selbst die nützlichen deutschen Ärzte erfahren rassistischen Gegenwind. Die Schweiz ist mit Sicherheit nicht das Vorbild einer weltoffenen Gesellschaft für Menschen.
Das ist ein Klischee. Ende Juni 2024 lebten fast 2,5 Millionen Ausländerinnen und Ausländer dauerhaft in der Schweiz, die eingebürgerten Personen nicht mitgezählt. Gemessen an der Bevölkerungszahl ist das rund doppelt so viel wie in Deutschland. Insofern ist Ihre Aussage irreführend.
Ich sehe, Sie gehen sofort in die Defensive. Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel für Doppelzüngigkeit. Die Vermummung von Frauen verstösst gegen jede Menschenwürde. Wenn ich bei Ihnen in der Bahnhofstrasse spazieren gehe, dann sehe ich jede Menge Frauen mit Kopfbedeckungen, Luxusschals und Vermummungen, dass man kaum noch ihre Augen sieht. Diese Art von Luxusburka ändert nichts daran, dass sie in Luxusläden als Kundinnen höchst willkommen sind. Dabei will ich zur Entspannung zugeben, dass ich diesen Widerspruch in fast allen kapitalistischen Gesellschaften erkenne. Aber eben auch deren Verlogenheit.
In der Schweiz ist es gesetzlich verboten, eine Burka zu tragen.
Ich habe nicht von der klassischen Burka gesprochen. Mir geht es um die Doppelmoral und die Heuchelei. Mir geht es darum, dass man nicht einerseits für die Frauenrechte im Iran oder in Saudiarabien kämpfen kann und andererseits, in unserer modernen Gesellschaft, wenn es ums Geld geht, die Augen zumachen darf. Wenn man das tut, dann sollte man wenigstens zur Heuchelei stehen. Übrigens gilt das auch immer noch für das Schweizer Bankensystem. In letzter Zeit beschäftige ich mich mit Jean-Paul Sartres Theaterstück «Die schmutzigen Hände», das bald am Zürcher Schauspielhaus in einer neuen Inszenierung Premiere haben wird. Mich erstaunt immer wieder, wie viel Seife Menschen brauchen, um ihre schmutzigen Hände weiss zu waschen, um sich und anderen die Illusion zu geben ‹Alles ist gut›. Aber Vorsicht: Muss man sich zu oft die Hände waschen, kann es zu gebleichter Haut führen.
Wie gehen wir mit der Wut von Menschen um, die sich aufgrund von Globalisierung und Einwanderung benachteiligt fühlen und deshalb rechtspopulistische Parteien wählen?
Wut und Neid sind sehr menschliche Gefühle. Der Unterschied zwischen einer populistischen und einer verantwortungsvoll-demokratischen Politik liegt zunächst einmal darin, dass Populisten diese Emotionen noch anheizen und im öffentlichen Diskurs Sündenböcke erschaffen, um politische Macht zu gewinnen. Verantwortungsvolle Politik hingegen versucht, auf berechtigte Emotionen mit praktischen Lösungen konkreter Probleme zu reagieren. Offensichtlich ist dies bisher misslungen. Darin besteht die Verantwortung oder Schuld der demokratischen Parteien am Aufstieg des Populismus.
Wer entscheidet darüber, ob Wut berechtigt ist?
Wut ist keine Verhandlungsfrage, sondern hochgefährlich und aggressiv. Sie ist als solche keine Grundlage für eine konstruktive Gesellschaftspolitik. Unabhängig davon kann sie ihre Gründe haben, aber wir sind Vernunftmenschen, und in einer Demokratie muss man argumentieren. Wenn wir es zulassen, dass Emotionen unsere Politik beherrschen, fallen wir in eine Welt der Unvernunft zurück. Ich aber bestehe auf dem Primat der Vernunft. Das bedeutet, dass man die Wut der Menschen akzeptiert und mit ihnen spricht, aber nicht, dass man sie noch steigert.
Debattieren Sie mit Exponentinnen und Exponenten der AfD?
Die AfD-Funktionäre haben eine Partei geschaffen, die demokratische und rechtsstaatliche Strukturen infrage stellt und deshalb ausserhalb des demokratischen Systems steht. Mit ihrem Rassismus und Judenhass verstossen die AfD-Funktionäre gegen Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt selbst für die Würde von Neonazis, obwohl sie meine jüdische Identität antastbar finden.
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Sind Sie für ein Verbot der AfD?
Ich bin der Meinung, dass es dafür noch mehr rechtliche Fakten und Material braucht. Im Verlauf des Bundestagswahlkampfes wird die AfD dies ohne Zweifel liefern. Bis dahin gilt es, die Auseinandersetzung im politischen Raum zu führen. Eine kurze Frage an Sie: Sie haben doch auch Menschenhasser, Extremisten, Islamophobe, Antisemiten in der Schweiz, oder? Was machen Sie dagegen?
Wir führen zum Beispiel dieses Interview. Als weitere Bedrohung der Demokratie gelten Wokeness und linke Identitätspolitik.
Wir leben in einer ausserordentlich gereizten, hochnervösen und oftmals nicht mehr dialogfähigen Zeit. Identitätsbewegungen haben aber insofern eine Berechtigung, als sie im Grunde nichts anderes sind als Emanzipationsbewegungen. Wäre die Frauenbewegung lieb und nett gewesen, hätte sie sich mit ihren Anliegen niemals durchgesetzt. Problematisch wird es in jenem Moment, in dem Identitätsbewegungen autoritär werden, sich als die einzige Möglichkeit der Zukunft definieren. Denn das zerstört den offenen Dialog, der Bedingung des emanzipatorischen Prozesses ist.
Haben Sie Verständnis für woke Anliegen?
Ja. Es gibt viele Dinge, die ich nachvollziehen kann. In meinen jüngeren Jahren habe ich bei der Eröffnung meiner Reden immer nur gesagt: «Guten Tag, meine Herren». Erst einige Jahre später ergänzte ich: «Guten Tag, meine Damen und Herren». Als ich jung war, gab es das Wort «Fräulein» noch. Aber der Versuch, zum Beispiel das Gendern gesellschaftlich zu erzwingen, weckt Gegenkräfte, die eher dazu führen, dass das Ziel der Inklusion und Gleichberechtigung verfehlt wird. Echte Emanzipationsprozesse sind immer dynamische Prozesse, die wir gesellschaftlich aushandeln müssen. Ich verstehe zwar die Ungeduld, aber solche Dinge brauchen nun einmal Zeit.
In Ihrem Buch «Fremd» beschreiben Sie die Kategorie des Sich-fremd-Fühlens im eigenen Land als zentral für Ihre Biografie. Hat sich dieses Gefühl in jüngster Zeit verstärkt?
Ja. Denn der Alltag in einer grossen deutschen Stadt wie etwa Frankfurt oder Berlin, wahrscheinlich auch in Zürich oder Basel, hat für jüdische Menschen viel Lebensqualität verloren, weil sie jederzeit von Rechtsextremisten, Linksextremisten oder von radikalisierten, meist jungen Moslems angepöbelt oder physisch angegriffen werden können. Oder weil sie mit Demonstrationen konfrontiert sind, in denen «Tod den Juden» geschrien wird. Es gibt wieder Vernichtungsfantasien gegenüber den Juden in Deutschland, und in der Schweiz und in der Welt. Das jüdische Leben in Europa ist das schlechteste seit Jahrzehnten. Auch deshalb, weil wir sehen, dass die Widerstandskraft und die Empathie der Demokraten dieser Entwicklung gegenüber eher unterdurchschnittlich sind.
Wie erklären Sie sich das?
Wie erklären Sie sich das? Sie sind doch die Nicht-Juden, die Erklärungen geben müssten.
Sie gelten als brillanter Rhetoriker, der in Streitgesprächen eine scharfe Klinge führt. In «Fremd» haben Sie die literarische Form des Gedichts gewählt. Warum?
Ob es ein Gedicht ist, weiss ich nicht sicher. Sicher ist aber, dass die Literatur die anstrengendste, aufregendste, verwirrendste Form ist, Gedanken und Gefühle, widernatürliche Realitäten und Fantasien, in Worte zu fassen. Die Vielschichtigkeit des Lebens, mit ihren Enttäuschungen, Zerbrechlichkeiten, offenen und geschlossenen Narben, letztendlich mit der gesamten Dramatik des Menschen, auch seinem Versagen, ist nur im Wunder der Literatur reproduzierbar. Hier müssen die Möglichkeiten der Sprache in ihrer Vielschichtigkeit ausgeschöpft werden. Paradoxerweise habe ich mich, weil die Geschichte der Holocaust-Überlebenden und ihrer Kinder so schwer erzählbar ist, umso mehr zu einer minimalistischen Sprache entschieden.
Sie haben gesagt, der Krieg der Ukraine gegen den russischen Aggressor sei auch unser Krieg. Ist auch Israels Krieg unser Krieg?
Ja. Denn genauso, wie Russland Europas Freiheit bedroht und China eine Gefahr für Taiwan und Südkorea darstellt, ist Israel, als die einzige Demokratie im Nahen Osten, eine Bedrohung für die radikalislamischen Staaten wie den Iran. Wie man in Israel lebt, wie wir in Deutschland oder der Schweiz leben – unsere Wertesysteme sind für den Iran nicht akzeptabel. Der Iran wie auch die afghanischen Taliban wie auch die Länder, die den IS unterstützen, wollen sowohl in der islamischen Welt als auch in unserer Welt einen islamischen Gottesstaat. China, Russland, der Iran regen gemeinsam eine neue autoritäre Weltordnung an, die allem widerspricht, worauf wir uns nach 1945 geeinigt haben.
Wie stark fühlen Sie sich als deutscher Jude verpflichtet, Israels Politik zu kommentieren und allenfalls zu rechtfertigen?
Nur weil ich jüdisch bin? Muss ein Schweizer Katholik die Politik des Vatikans kommentieren, allenfalls gar rechtfertigen? Ich bin übrigens deutscher Staatsbürger. Ich kann, aber muss nicht, Israels Politik rechtfertigen. Ich werde allerdings immer das Existenzrecht Israels verteidigen, so wie ich das Existenzrecht der Schweiz verteidigen würde. Einen Juden zwangsläufig als eine Art Pressesprecher der israelischen Regierung zu betrachten, ist aber ein Rückfall ins vorletzte Jahrhundert. Dahinter steckt die antisemitische Vorstellung der jüdischen Weltverschwörung. Ich bin deutscher und nicht israelischer Staatsbürger und deshalb genauso wenig verpflichtet, Israels Politik zu beurteilen wie Sie.
Darf ich Sie trotzdem um einen Kommentar zur Brutalität bitten, mit der Israel die Zivilbevölkerung in Gaza bombardiert?
Würden Sie diese Frage auch einem Katholiken stellen?
Ja.
Das heisst, jeden, den Sie zu irgendeinem Thema interviewen, fragen Sie nach dessen Meinung zum Nahostkonflikt?
Nicht jeden, aber einen politisch interessierten und interessanten Menschen …
Mir ist es wichtig, hervorzuheben, dass die Synonymisierung von Jude und Israeli ein antisemitisches Narrativ ist, das in einer Zeit, in der in Berlin, New York oder Zürich wieder «Tod den Juden» geschrien wird, noch skandalöser ist, als wenn ohnehin schon «Tod den Israelis» geschrien wird. Nachdem wir diesen aufklärerischen Lernprozess vollzogen haben, kann ich Ihre Frage aber jetzt gerne beantworten. Sofern Sie das tatsächlich wollen.
«Israel übernimmt eine Arbeit für die gesamte freie Welt.»
Ja, natürlich.
Ich glaube, dass Israels Regierung gerade für die ganze freie Welt eine der wichtigsten terroristischen Strukturen, die Hamas und die Hizbollah, zerstört, die von einem Land, nämlich dem Iran, aufgebaut wurden. Zuvor hat es Israel jahrelang hingenommen, von der Hizbollah aus dem Libanon mit Raketen beschossen zu werden, mit der Folge, dass es 60’000 Menschen, eigene Staatsbürger, in andere Landesteile evakuieren musste. Davon haben die Medien, auch Schweizer Zeitungen, sehr wenig geschrieben. Gleichzeitig möchte ich festhalten, dass ich einer der härtesten Kritiker des Premiers Benjamin Netanyahu bin. Eine Regierung, in der eine extremreligiöse Partei Macht bekommt und ein verurteilter Rechtsextremist Innenminister ist, ist weder in Berlin, Bern oder Jerusalem erträglich.
Der Kollateralschaden, den Israel mit der Tötung Zehntausender Zivilisten anrichtet, ist schlicht zu gross.
Ich würde den Begriff Kollateralschaden nicht verwenden. Er ist zynisch. Jedes Mal, wenn ich ein Bild von einem toten palästinensischen Kind sehe, oder einer Frau, einem Mann, zerbricht es mir das Herz. Wie bei einem israelischen Kind auch. Sie erhalten von mir auf solche Fragen aber keine Antworten, die sich für Schlagzeilen eignen. Mir war es wichtig, erst einmal zu signalisieren, dass das, was Israel mit der Hamas und ihrer Führung gemacht hat, auch eine Arbeit ist, die es für die gesamte freie Welt übernimmt, auch für die Schweiz. Die Hamas hat im Gazastreifen eine terroristische Struktur geschaffen, sodass bei einem Verteidigungskampf vonseiten Israels die Zivilbevölkerung zum Opfer wird. Die Hamas trägt deshalb die Hauptverantwortung.
Wie kann dieser Konflikt beendet werden?
Wenn die Hamas bereit ist, sich an den Verhandlungstisch zu setzen und die Geiseln zu befreien. Sie ist der Aggressor und nicht der Befreier. Solange dies nicht der Fall ist, habe ich ein Problem damit zu fordern: Israel hätte den Krieg früher beenden müssen, denn man weiss immer noch nicht, ob dafür die Grundvoraussetzung überhaupt besteht – dass es nicht erneut angegriffen werden kann. Insofern gibt es eine Parallele zum russischen Angriff auf die Ukraine. Wenn Putin nicht einmal mehr bereit ist, einen Anruf des deutschen Bundeskanzlers Scholz entgegenzunehmen, können wir in unseren beheizten Wohnungen doch nicht sagen: Die Ukraine muss ihren Widerstand einstellen und verhandeln. Dasselbe gilt für Israel.
Michel Friedman ist am 30. Oktober um 20 Uhr am Schauspielhaus Zürich zu Gast. Er wird sein Buch «Fremd» vorstellen und mit der Autorin Melinda Nadj Abonji über Fremdheit, Gemeinschaft und Ausgrenzung sprechen. Moderation: Roger de Weck.
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