Essay zum angeblichen Woke-WahnDas neue Schreckgespenst der Konservativen: Wokeness
«Sozialismus» zieht als Vorwurf an die Linke nicht mehr. Deshalb reden konservative Publizisten und Politikerinnen nur noch von «Cancel-Culture». Das behauptet ein US-Magazin – zu recht.
Die Finanzkrise 2008, die Corona-Pandemie und jetzt die Credit Suisse und die amerikanischen Regionalbanken: Dreimal binnen relativ kurzer Zeit mussten Regierungen und Zentralbanken globale wirtschaftliche und politische Schreckensszenarien verhindern oder zumindest deren Folgen mildern.
Unabhängig davon, ob der Staat mitschuldig an den jeweiligen Krisen war: Seine Eingriffe wurden auch von jenen begrüsst, die sich sonst als Verfechter von freier Marktwirtschaft, Wettbewerb, Selbstverantwortung und Staatsskepsis gebärden. Sie setzen sich damit dem Vorwurf der Doppelmoral aus. «Am Sonntag verteufelt man den Staat, und am Montag ruft man nach ihm», sagte Mitte-Präsident Gerhard Pfister kürzlich im «SonntagsBlick».
Aber auch jenseits akuter Krisen ist das angebliche wirtschaftspolitische Distinktionsmerkmal zwischen rechts und links weitgehend verschwunden, das da lautete: Die Rechte steht für fiskalpolitische Disziplin und staatliche Sparsamkeit, die Linke für Umverteilung und staatlichen Interventionismus. 2016 versprach Donald Trump, mindestens doppelt so viel in die Infrastruktur zu investieren wie die 275 Milliarden, die Hillary Clinton budgetieren wollte. Als sie dann an der Macht waren, haben es die Republikaner tunlichst unterlassen, Obamacare abzuschaffen, die Krankenversicherung, die sie zuvor als «sozialistisch» dämonisiert hatten.
Würde die gegenwärtige rechte italienische Regierungskoalition ihre versprochenen sozialen Segnungen und Wahlgeschenke tatsächlich ausschütten, resultierte laut Ökonomen während 5 Jahren ein Budgetdefizit von 6 Prozent. Die marktliberale britische Ex-Premierministerin Liz Truss hat Börsen und Investoren im vergangenen Oktober nicht nur mit ihren radikalen Steuersenkungsplänen aufgeschreckt, sondern auch mit der Ankündigung, die Heizkosten sämtlicher Haushalte für zwei Jahre einzufrieren – auf Staatskosten natürlich.
Wer solche Kapitalisten hat, braucht die Sozialisten nicht zu fürchten.
Marine Le Pen versprach im letzten Wahlkampf, die Autobahnen zu verstaatlichen, um deren Gebühren zu senken, ausserdem gelobte sie, die Löhne von Gesundheitspersonal und Lehrerinnen und Lehrern um 30 Prozent zu erhöhen. Und die Schweizer SVP hat kein Problem damit, die Landwirtschaft jährlich mit mehr als 4 Milliarden Franken aus den Kassen der öffentlichen Hand zu subventionieren.
Laut der deutschen «Zeit» veröffentlichen inzwischen «selbst Zentralorgane des Marktliberalismus wie die Industrieländer-Organisation OECD oder der Internationale Währungsfonds Stellungnahmen, die auch die Jusos verfasst haben könnten».
Mit anderen Worten: Ein Staat, der solche Marktliberale, Kapitalisten und Rechte hat, braucht die Sozialistinnen wahrlich nicht zu fürchten.
Der wöchentliche Woke-Artikel in der NZZ
Die linksliberale US-Publikation «The Atlantic» hat kürzlich die These aufgestellt, es gebe einen Zusammenhang zwischen solchen Vorgängen und dem Phänomen, dass konservative Zeitungen – im deutschen Sprachraum sind es unter den ernst zu nehmenden vor allem die NZZ und die «Welt» – den Woke-Warnartikel zu einer eigenen Textgattung herangezüchtet hätten. Genauso wie es kein Zufall sei, dass etwa die US-Republikaner den linken «Woke-Wahn» zu einem zentralen Wahlkampfthema machten. Dasselbe gilt für die SVP (die im «Atlantic» allerdings nicht erwähnt wird).
«Wokeness hat den Sozialismus als grosses konservatives Schreckgespenst verdrängt», lautet der Titel des Beitrages im «Atlantic».
Dieser Lesart zufolge steckt hinter der Behauptung, es komme zu immer mehr und immer gravierenderen Fällen von Cancel-Culture und woken Umtrieben, nicht zuletzt eine politisch motivierte Wahrnehmungsverschiebung. Wenn einen die Realität zwingt, milliardenschwere staatliche Rettungsaktionen zu befürworten und man – bis vor kurzem auch verlockt von niedrigen Zinsen – zumindest in Wahlkampfbroschüren selber verspricht und verteilt wie der Weihnachtsmann, kann man der Linken nicht mehr glaubwürdig vorwerfen, sie sei verschwenderisch.
Den einen Vorwurf (Sozialismus) hat die Realität entkräftet, also zwingt einen die Themenkonjunktur, sich auf etwas anderes einzuschiessen (Wokeness).
Schon vor 30 Jahren: Dieselben Floskeln, dieselben düsteren Prophezeiungen.
Das stärkste Indiz für die These der je nach Themenkonjunktur an- und abschwellenden Antiwoke-Erregung ist, dass schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert sehr ähnliche Warnungen wie heute erklangen, bloss hiess das Schreckgespenst damals nicht Wokeness oder Cancel-Culture, sondern politische Korrektheit. Befürchtungen, die Universitäten könnten links unterwandert und zu Brutstätten der Intoleranz werden, gehen sogar bis in die 1950er-Jahre zurück.
Liest man nach, was früher so geschrieben wurde, stellt man mit einer gewissen Verblüffung fest: dieselbe atemlose Empörung, schon damals. Dieselben Floskeln, dieselben furchteinflössenden Prophezeiungen. Im Juni 1999 schreibt Claus Nordbruch, Autor eines Buches mit dem Titel «Sind Gedanken noch frei? Zensur in Deutschland» in der NZZ: «Die selbst ernannten ‹politisch Korrekten› wähnen sich im Besitz der alleinigen Wahrheit und verweigern deshalb jedes Recht auf Widerspruch. Dieses verordnete Denkverbot führt schliesslich zur Verkümmerung der Geistesfreiheit im ehemaligen Land der Denker.»
«Mich kotzt diese politische Korrektheit langsam an», verkündete der Regisseur Stefan Bachmann 1998 im «Tages-Anzeiger».
Der in Stanford lehrende deutsche Literaturwissenschaftler Adrian Daub zitiert in seinem Buch «Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst» eine Ausgabe des «Spiegels» aus dem Jahre 1993. Darin wird politische Korrektheit als «Liturgie der inhumanen Denk- und Kampfschablonen, des linken Konformitätsdrucks und letztlich der Zensur» verurteilt. Knapp zehn Jahre später wüten laut demselben Magazin immer noch – oder erneut – «selbst ernannte Gesinnungspolizisten».
Zehn Jahre ist es auch her, dass die beiden deutschen Journalisten Michael Brückner und Udo Ulfkotte ein Buch mit dem Titel «Politische Korrektheit: Von Gesinnungspolizisten und Meinungsdiktatoren» geschrieben haben, während, wie Daub erwähnt, schon 1995 Michael Behrens und Robert von Rimscha in einem Buchtitel vor «Politischer Korrektheit in Deutschland – Eine Gefahr für die Demokratie» warnten. Ein paar Jahre später ist im Titel einer Kampfschrift vom «Schlachtfeld der Tugendwächter» die Rede.
Daub zitiert auch das «Time Magazine», das bereits 1988 beklagt, Homer, Darwin und Dante seien aus politischen Gründen vom Lehrplan der Universität Stanford verbannt worden. Um die Jahrtausendwende trifft es dann laut «Süddeutscher Zeitung» Shakespeare, Goethe und Molière.
Wie der Wolf im Märchen
Es ist wie im Märchen vom Schafhirten, der ständig falschen Alarm wegen des bösen Wolfs schlägt. Versuchen linke Tugendwächter seit 30 Jahren vergeblich, eine «Meinungsdiktatur» zu errichten? Oder leben wir seit Jahrzehnten in diktatorischen Verhältnissen? Wie plausibel ist das?
Deshalb, liebe antiwoke Feuilletonredaktoren und Meinungsjournalistinnen, liebe rechte Wahlkampfmanager und sonstige Widersacher des sogenannten Woke-Wahns: Sollte es euch irgendwann langweilig werden, ständig das Nebelhorn des angeblichen Meinungspluralismus zu tuten, gäbe es ein paar Fragen, die vielleicht dazu beitragen, die Debatte etwas differenzierter und vor allem kurzweiliger zu machen.
Könnte es sein, dass Begriffe wie «Meinungsdiktatur», «Gesinnungspolizei», «Tugendterror», die einem in euren Texten entgegenklappern wie Gespenster in einer Geisterbahn, ziemlich frivol sind? Wollen wir mal die russische Kriegsgegnerin und politische Gefangene Sascha Skotschilenko, den zu 9 Jahren Gefängnis verurteilten kubanischen Rapper und Dissidenten Maykel Osorbo, die chinesische Menschenrechtsaktivistin Cheng Jianping fragen, was Meinungsdiktaturen und Gesinnungswächter draussen in der realen Welt so anrichten?
«Selbst ernannt» – eine konservative Obsession.
Oder waren die früheren Diktaturdiagnosen doch etwas übertrieben, während es jetzt ernst gilt? Bloss, wie könnt ihr sicher sein, dass man in zwanzig oder dreissig Jahren euer aufgeregtes Brimborium um Woke-Wahn und Cancel-Culture nicht ähnlich betrachten wird wie wir Heutigen das frühere um politische Korrektheit? Oder, noch früher, um lange Haare bei Männern und kurze bei Frauen?
Wenn der «Meinungskorridor» – noch so eine Platzpatrone aus der verbalen Asservatenkammer antiwoker Freiheitsbrigaden – seit Jahren und Jahrzehnten immer enger und enger wird: Warum ist er dann nicht längst so eng wie das biblische Nadelöhr? Und wie um Gottes willen schafft ihr es, euch da Woche für Woche durchzuquetschen?
Und woher kommt eigentlich eure Obsession mit dem Ausdruck «selbst ernannt»? Allein in den letzten paar Monaten traten bei euch auf: die «selbst ernannte Sprachpolizei», die «selbst ernannten Opfergruppen», die «selbst ernannten Retter der Menschheit», der «Furor der woken Sprachreiniger und die Wut der selbst ernannten antiwoken Sprachretter» (alles Beispiele aus der NZZ). Ferner «selbst ernannte Social-Justice-Warriors» und «selbst ernannte Hüter der Hochmoral» («Weltwoche»), «selbst ernannte Solidarische» («Welt») und «selbst ernannte Progressive» («Schweizer Monat»). Es gäbe sicher noch viele weitere Beispiele, aber die Suche danach wird schnell ebenso öde wie das Wort.
Gefährliche Gehirnchirurgin
Jemanden als «selbst ernannt» zu charakterisieren, ist dann aussagekräftig, wenn diese Person sich eine Funktion oder Stellung anmasst, die eine private oder öffentliche Institution verleihen müsste. Eine selbst ernannte Gehirnchirurgin, die ist tatsächlich gefährlich. Für Verfechterinnen einer politischen Meinung oder eines sozialen Anliegens, für moralisch Empörte oder Verbreiter ideologischen Unsinns gibt es zum Glück keine ernennende Instanz, weshalb in solchen Zusammenhängen letztlich alle «selbst ernannt» sind – auch ihr, geschätzte – sagen wir mal – «selbst ernannte Woke-Unkrautjäter» und «selbst ernannte Sprach-Mumifiziererinnen».
Eine von vielen Floskeln, die darauf hindeuten, zu welch fingerfertig hergestellter Dutzendware mittlerweile die meisten woke-kritischen Texte geworden sind, ist «selbst ernannt» allemal.
Die Anliegen von sozial- und kulturpolitischen Jugendbewegungen sind im Kern oft berechtigt, und das gilt auch für die Woke-Bewegung. Dass deren Aktivistinnen und Aktivisten dazu neigen, ihre Forderungen zu übertreiben und ihre Kritik am Bestehenden zu dramatisieren, ist offenkundig. Jugendbewegungen sind im historischen Rückblick trotzdem meist weniger umwälzend, als es denjenigen erscheint, deren Privilegien, Gewohnheiten und Überzeugungen sie angreifen. Die Befürchtung, ideologische Unruhestifter könnten Sitte und Moral unterminieren, individuelle Freiheiten aushöhlen, die viel zitierte Grenze des Sagbaren und Erlaubten dauerhaft enger ziehen, auch jenseits von ausgehandelten, seit je dem sozialen Wandel unterliegenden Werten und Gepflogenheiten – diese Angst hat sich in der Nachkriegszeit als weitgehend unbegründet erwiesen. Zumindest in den offenen, liberal- demokratischen Gesellschaften.
Was uns tatsächlich bedroht
Es stimmt, dass Wörter, die vor kurzem noch selbstverständlich waren (wie das N-Wort), heute tabu sind – zu recht. Dafür werden aber Themen, die man früher nicht einmal im privaten Gespräch angeschnitten hätte, etwa in den Bereichen Sexualität und Körperlichkeit, im Frühstücksfernsehen besprochen. Dass die Exzesse der Woke-Bewegung, die es durchaus gibt, von deren Anhängerinnen und Verfechtern auch längerfristig als unverhandelbar deklariert werden und demzufolge die Freiheit dauerhaft untergraben — dieser Beweis steht aus.
Was die offene demokratische Gesellschaft tatsächlich bedroht, sind nicht die Woken, sondern Rechtspopulisten in Regierungsgebäuden, wie Orban oder noch vor kurzem Trump und Bolsonaro. Indem ein Teil derjenigen, die am lautesten über den Woke-Wahn ablästern, solch autoritäre Figuren verteidigen oder verharmlosen, steuern sie eine realsatirische Fussnote zum Kapitel «Verlogenheit» bei.
Um zum Schluss nochmals auf die These des «Atlantic» zurückzukommen: Wenn der Sozialismus-Vorwurf an die Linke nicht mehr richtig zieht – zumindest dafür können die Jungen, die Woken, die Trans-Aktivistinnen und inkludierenden Genderstern-Bewegten nichts.
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