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Meinung

Kolumne Philipp Loser
Sind wir zu woke?

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Denken wir zu viel über Identität nach? Geben wir der Debatte über sexuelle Orientierung, fluide Geschlechter und Gender zu viel Raum? Sind wir überkorrekt, überheikel? Zu woke?

Kommt sehr darauf an, wen man mit «wir» meint.

Es gibt ein kleines Milieu in den Städten, in den sozialen Medien und an den Universitäten, wo die Diskussion über Identitätspolitik tatsächlich sehr aufgeladen ist. Man kann dort diese Diskussion kaum mehr führen, ohne sofort jemanden auszugrenzen, zu verletzen, herabzuwürdigen. Wer sich diesem Verdacht nicht aussetzen will, der bleibt lieber still. An diesen Orten gibt es, so ist der Eindruck von aussen, sehr engagierte Menschen, die nahezu alle Fragen unserer Zeit auf Identität zurückführen wollen.

Nur darf man den Fehler nicht machen, diese laute und meinungsstarke Minderheit mit der Realität der Mehrheitsgesellschaft zu verwechseln.

Vor knapp zehn Jahren veröffentlichte Marcus Wiebusch, Sänger der Band Kettcar, einen Song mit dem Titel «Der Tag wird kommen». Er erzählt darin die Geschichte eines homosexuellen Fussballers, der es in die deutsche Bundesliga schafft und vor der Frage steht, ob er seine sexuelle Orientierung öffentlich machen soll.

«Jeder liebt den, den er will und der Rest bleibt still», heisst es im Refrain über jenen Tag, an dem er genau das tun wird. «Ein Tag, als hätte man gewonnen. Dieser Tag wird kommen.» Irgendwann vielleicht. Im Song allerdings nicht – der Fussballer bleibt stumm.

Kurz nach Wiebusch veröffentlichte Édouard Louis seinen autofiktionalen Debütroman «Das Ende von Eddy», in dem er von seinem Aufwachsen im ärmlichen Norden von Frankreich erzählt. Eddy ist schwul und verbringt den grössten Teil seiner Kindheit damit, sich einer Gesellschaft anzupassen, die ihn nicht will, ihn verachtet und verabscheut. Der Satz «Heute bin ich ein echter Kerl» wird zu seinem Mantra. Er sagt ihn sich jeden Tag, er wird zum täglichen Gebet, zum traurigen Mittelpunkt seiner Existenz.

Das reicht natürlich nicht. Eddy wird missbraucht, gedemütigt, fertiggemacht. Frei sein, sich selbst sein, das kann er erst nach einer Flucht in die Stadt. Die homophoben Mitmenschen lässt er in der Provinz zurück (dort sind sie bis heute).

Vor gut einer Woche erschien die erste Kolumne von Kim de l’Horizon im «Tages-Anzeiger». «Mein Leben lang wurde mir das Gefühl gegeben, ich käme nicht von hier», hiess es im Text der genderfluiden Schriftstellerperson. Und: «Körper wie meiner werden als Fremdkörper gelesen.» Die Kolumne knüpfte an einen Essay in der NZZ nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises an, in dem de l’Horizon gewalttätige Übergriffe gegen sich geschildert hatte.

Wer nun bei Kim de l’Horizon Wehleidigkeit oder Übertreibung vermutet, der sollte sich die Onlinekommentare zu der Kolumne anschauen. «Wieso muss er sich so darstellen? Er könnte auch schweigen», heisst es da. «Schade für die Platzverschwendung» oder «egozentrischer missionarischer Eifer». Und das sind nur jene Kommentare, die nicht gelöscht werden mussten.

Die Kommentare geben ein recht gutes Gefühl für die tatsächliche Realität, in der sich Menschen wie der schwule Fussballer in der deutschen Bundesliga, Édouard Louis in der französischen Provinz oder Kim de l’Horizon in der Winterthurer Innenstadt bewegen. Es ist die gleiche Realität, in der die grösste Partei der Schweiz ein ganzes Kapitel ihres Parteiprogramms dem Kampf gegen «Gender-Terror und Woke-Wahnsinn» widmet und damit Wahlen zu gewinnen hofft.

Denken wir zu viel über Identität nach? Geben wir der Debatte über sexuelle Orientierung, fluide Geschlechter und Gender zu viel Raum? Sind wir überkorrekt, überheikel? Zu woke?

Nein. Dieser Tag ist noch lange nicht gekommen.

Philipp Loser ist Redaktor des «Tages-Anzeiger».