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«After Woke» von Jens Balzer
Er will die Wokeness vor den Linken retten

Jens Balzer
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Sie lieben Triggerwarnungen, Awarenesskonzepte mit so vielen Punkten, dass man schon beim Betreten der «Safe Spaces» Angst hat, alles falsch zu machen. Sie sind hypersensibel gegenüber Mikroaggressionen und korrigieren andere so lange, bis das korrekte Pronomen verwendet wird. Die Rede ist von der woken Linken. Menschen, die ihre Stimmen gegen Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Diskriminierung aller Art erheben. Aber offenbar nicht gegen Antisemitismus.

Als am 7. Oktober 2023 die Terrororganisation Hamas das entsetzlichste Massaker nach der Schoah an der jüdischen Bevölkerung verübte, war es erst einmal still. Wo waren die Gegenstimmen nach dem Anschlag auf das Technofestival, wo die Solidaritätsbekundungen aus dem Kulturbetrieb? Für «Zeit»-Autor und Popkritiker Jens Balzer ein «moralischer Bankrott».

In seinem Essay «After Woke» versucht er zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Und als Musikkenner, der er ist, stellt er aufschlussreich dar, woher der Begriff «woke» ursprünglich kommt. Bereits 1938 ging es Bluessänger Lead Belly und Jahre später auch Sängerin Erykah Badu darum, wachsam gegenüber Diskriminierung zu bleiben, zu beobachten und sich weiterzuentwickeln.

Auf welcher Seite der Geschichte stehen die Woken?

Der woken Linken gelingt das jetzt aber offenbar nicht mehr. Man möchte «auf der richtigen Seite der Geschichte stehen» und sei nur selektiv empathisch, was für Balzer verlogen und moralisch selbstgerecht ist. Jens Balzers Text ist aufrichtig besorgt und überlegt angriffig, denn er selbst habe nach dem 7. Oktober seine progressive intellektuelle Heimat verloren.

Menschen wurden entführt, erschossen, Frauen vergewaltigt – und was tat die queerfeministische Philosophin Judith Butler? Sie nannte es «bewaffneter Widerstand» und stellte die sexualisierte Gewalt infrage. Irritierende Aussagen aus einer politischen Ecke, in der die Menschen bei jedem #MeToo-Fall vermutlich erst einmal den Opfern glauben. Aber ob jüdische Frauen wirklich vergewaltigt und geschändet wurden, da ist sich Butler nicht so sicher.

Die Autorin Anastasia Tikhomirova habe das bitter beschrieben mit: «#MeToo unless you’re a Jew», so Balzer. Menschen, «die bis dahin für sich in Anspruch genommen haben, als besonders woke oder sensibel zu gelten», diese Menschen, der Achtsamkeit verschrieben, würden jegliches Mitgefühl gegenüber jüdischen Menschen verweigern.

Menschen werden in Freund und Feind eingeteilt

Und um es mit dem deutschen Autor und Journalisten Dietmar Dath zu sagen, den Balzer zitiert: «Falsch abbiegen ist ja deren Art zu fahren. Links blinken, falsch abbiegen und dabei Leute überfahren.» Für Dath gehört dieses Falschabbiegen untrennbar zur Geschichte der Linken.

Identität werde jetzt plötzlich wie bei den Rechtspopulisten definiert. Für Balzer kommt eine fehlgeleitete Interpretation von Postkolonialismus als «Wahrheitsregime» hinzu. So würden Menschen in schwarz und weiss eingeteilt «und jüdische Menschen als privilegierte weisse Menschen betrachtet und damit auf die Seite der Unterdrücker oder Kolonialisten gestellt». Wer sich auf jener Seite befinde, habe kein Anrecht mehr, seine eigenen Erfahrungen von Diskriminierung zu erzählen.

Bei dieser Einteilung in Unterdrücker und Unterdrückte, Freund und Feind kommen Juden gar nicht vor. Hinzu kommt für Balzer eine «Faszination für Erzählungen von Ursprünglichkeit», eine «Konjunktur des ‹Indigenen›», was auch dazu führte, dass immer wieder der abenteuerliche Satz «Wenn Palästina frei ist, dann werden wir alle frei sein» skandiert wird.

Balzers 90-Seiten-Büchlein führt gerade Sachbuch-Bestsellerlisten an und ging schnell in die zweite Auflage. Etwa 10’000 Exemplare liegen gerade auf den Nachttischen oder, dazu verführt das Format, stecken in Hosentaschen. Was etwas über die durchaus anspruchsvolle Lektüre hinwegtäuscht.

Und jetzt? Ist das identitäre Denken gescheitert? Vermutlich hat Balzer sein Büchlein ganz bewusst nicht «Anti Woke», sondern «After Woke» genannt. Denn er will nicht, dass die «reaktionären Kräfte des identitären Denkens» übernehmen. Es müsse all denen widersprochen werden, die nach dem 7. Oktober das Ende der Wokeness verkünden und weiter auf dem Schauplatz rechter Kulturkämpfe von einer «ethnisch homogenen Nation» und einer «binär strukturierten Geschlechtlichkeit» sprechen. «Gegen diese andere, rechte Art der Bigotterie und des selbstwidersprüchlichen Denkens muss man unbedingt die Utopie einer richtig verstanden ‹Wokeness› verteidigen.» Denn die Anliegen von sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe für alle müssten unbedingt in eine Zukunft rübergerettet werden, die nicht von einer erstarkenden Rechten übernommen werde.

Ein leidenschaftlicher Beitrag zur Debatte

Und diese Utopie ist für Balzer eine, «die sich gegen Essenzialisierungen aller Art wendet und stattdessen für die Freiheit eintritt, den Identitätsvorstellungen der hegemonialen Gesellschaft nicht zu folgen». Man will sich nicht mit Trump oder dem ungarischen Ministerpräsidenten Orbán verbünden. Die Wokeness deswegen aufgeben? Auf gar keinen Fall, findet Jens Balzer.

Balzer ist oft wahnsinnig schnell und produktiv, beinahe jedes Jahr erscheint ein Buch von ihm. «After Woke» ist jetzt eine Einladung, wenn nicht sogar eine Aufforderung, weiterzudenken, wie das Emanzipatorische beschützt werden kann. Für Balzer sind diese Verirrten nicht mehr zu retten. Aber es gibt ja andere, die bis jetzt noch nicht viel gesagt haben.

«After Woke» ist die engagierte und leidenschaftliche Grundlage für eine komplexe Debatte. Jens Balzer hat einen Anfang gemacht, weitermachen, vor allem mitmachen müssen jetzt andere.

Jens Balzer kommt nach Zürich und ist am 6. November im Kaufleuten beim Tages-Anzeiger-Talk zu Gast.

Jens Balzer: After Woke. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2024. 105 Seiten, ca 18 Fr.