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Das waren die 90er-Jahre
Das enthemmte Jahrzehnt

«Zustand, in dem die Vergangenheit und die Zukunft in einer endlosen Gegenwart miteinander verschmelzen»: Raver auf der Berliner Love Parade, aufgenommen 1991. 
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Nach einer umständlichen Rede spricht Günter Schabowski es aus, der ostdeutsche Sekretär für das Informationswesen: «Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen.» Es ist der 9. November 1989 um sieben vor sieben Uhr abends, und der Kalte Krieg geht zu Ende.

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Zu Recht beginnt Jens Balzer sein Buch über die langen Neunzigerjahre mit dem deutschen Mauerfall im November 1989 und lässt das Jahrzehnt mit den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 auslaufen. «Low tech, high intelligence», fasste CNN die Anschläge mit amerikanischer Lakonie zusammen. Am Anfang und Ende des Jahrzehnts stürzten Mauern und Wände ein, wenn auch aus einander widersprechenden Gründen. 

Zu den Vorzügen von Balzers wie immer glänzend geschriebenen, detailreich recherchierten Analyse gehört, dass er sie aus einer europäischen Perspektive geschrieben hat. Darum verfällt er nie den amerikanischen Aufregungen, welche die Welt beschäftigten, aber nur die USA betrafen: das Sektendrama in Waco, Texas; die Schwarzen-Unruhen von Los Angeles; der Prozess gegen O.J. Simpson und die Enthüllungen von Monica Lewinsky; die Attentate von New York und Oklahoma City; die Verdrogung der amerikanischen Gesellschaft durch Prozac, Vicodin und kolumbianisches Kokain. 

«No Limit» hat der in Berlin lebende Journalist sein neues Buch betitelt, so hiess der erste internationale Technohit von 1992. Auch der Untertitel des Buches verbreitet Euphorie: «Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit». Nun ist Jens Balzer der Erste, der sein eigenes Versprechen bricht, und er tut es am Beispiel seiner Heimat.

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Denn wie der Autor erinnert, schlug die gesamtdeutsche Begeisterung über das friedliche Ende des Kalten Krieges bald in westdeutsche Ablehnung um. Schon Tage nach dem Mauerfall beklagten sich Leute in Westberlin über leere Regale. Wenig später realisierten westdeutsche Bürgerinnen und Bürger, dass sie ihre ostdeutschen Verwandten nicht so schnell wieder loswürden. Und immer mehr BRD-Bewohner befürchteten, von ihren neuen Landsleuten überrannt zu werden. Auch darum ging es so schnell mit der Einheitswährung und der Fusion von DDR und BRD: Der Westen wollte eine Masseneinwanderung aus dem Osten verhindern.

Der Hedonismus des Techno

Die erste Jugendkultur der Neunziger war eine Tanzbewegung: Techno. Dabei bot Ost-Berlin dank seinen leeren Häusern und Fabrikgebäuden neue Freiräume, in denen sich die Leute einrichten konnten. Sie feierten den Fun als Stahlbad; Techno war eine hedonistische, von einer funktionalen Tanzmusik vertonte und von der Droge Ecstasy (MDMA) euphorisierte Jugendkultur.

Die Musik bezog ihre Energie aus der amerikanischen Industriestadt Detroit und der Raverszene im englischen Manchester. Zu den deutschen Epizentren der Bewegung gehörte der Club Tresor, eine von Kaiser Wilhelm eingeweihte Stahlkammer im Untergrund von Berlin-Mitte. In diesem Raum, schreibt Balzer, hätten die Leute tanzend einen Zustand erfahren, «in dem die Vergangenheit und die Zukunft in einer endlosen Gegenwart miteinander verschmelzen»; Techno als Vertonung einer Post-Historie.  

Aber wie bei allen Bewegungen dauerte es nicht lange, bis der Kapitalismus die Technokultur eingemeindet hatte. Das liess sich auch in Zürich beobachten, wo die Sponsoren schon bald an die Street Parade drängten. Der Protest der neuen Generation bestand darin, dass sie keinen Protest formulierte, sondern sich zu einer Wochenendbewegung gruppierte, deren Vertreter die Woche über ins Büro gingen. Techno, schrieb Balzers Kollege Thomas Gross, wurde «zu einem Stück Angestelltenkultur», religionskulturell gesagt: katholische Sinnlichkeit paarte sich mit protestantischem Rhythmus.

Gleichzeitig verdüsterte sich in Deutschland das politische Klima, was sich im Osten als Wiederkehr des Verdrängten manifestierte. In der DDR hatte es offiziell keinen Rassismus gegeben. Umso heftiger explodierte die rechtsextreme Gewalt nach dem Mauerfall, vor allem im Osten kam es zu Demonstrationen, Schlägereien und Brandanschlägen mit mehreren Toten. Diese lösten am 6. Dezember 1992 in München eine Gegendemonstration der Lichterketten aus, etwa vierhunderttausend Menschen gingen aus Protest auf die Strasse.

Die rechtsextremen Morde machten klar, was sich im Lauf des Jahrzehnts im Balkankrieg, dem Genozid von Ruanda und den islamistischen Attentaten bestätigen sollte: Von einem «Ende der Geschichte» und dem friedlichen Triumph des Kapitalismus, wie es der amerikanische Politologe Francis Fukuyama 1989 verkündet hatte, konnte keine Rede sein. 

Am wenigsten vorbereitet war der Westen auf den Klerikalfaschismus der Islamisten, weil dessen Ursprünge so weit entfernt lagen. Und die westlichen Demokratien seine Auswirkungen erst Jahre später direkt erlebten, am deutlichsten bei den Attentaten des 11. Septembers.

Dennoch erwiesen sich die Neunziger als dynamisches Jahrzehnt. Am stärksten zeigte sich das in der medialen Entwicklung. Erst kam das Privatfernsehen in Europa auf und etablierte das Medium zu einem 24-Stunden-Benutzerkanal. Nachrichten verseichteten zum Infotainment, Talkshows machten Unbekannte zu Stars, Banalitäten entwickelten sich zu Skandalen, Fernsehserien bestimmten das Tischgespräch, politische Debatten verbreiteten das Agenda-Setting ihrer Akteure.

Jens Balzer hat sich schon immer für die Populärkultur interessiert, selbst wo sie sich zum Trash vulgarisiert. «Wenn man versucht, eine Gesellschaft zu beschreiben», sagt er, «muss man sich auch mit dem Populären jenseits der Popkultur beschäftigen.» 

Immer erreichbar sein

Als noch wichtiger in den Neunzigern erwiesen sich eine technische und eine virtuelle Erfindung, die weit über die Neunziger in unsere Gegenwart hineinstrahlen: das Handy und das Internet. Früher sahen die tragbaren Telefone aus wie Hochhäuser, waren unbezahlbar und meistens nur im Auto betreibbar. In den Neunzigern wurden die Geräte immer kleiner, billiger und länger nutzbar. Heute sind wir über das Handy, über SMS, E-Mail und Beantworter so leicht zu erreichen, dass wir es als Rückweisung begreifen, wenn jemand nicht auf unsere Kontaktversuche reagiert, es gibt sogar einen Begriff dafür: Ghosting.

Der legendäre «Knochen»: Nokia 3310.

Als noch folgenreicher erwies sich das Internet, bei dem zwei konträre Mentalitäten zusammenkamen: die dezentralen Kommunikationsbedürfnisse des Militärs – und die von ihren LSD-Räuschen befeuerte Utopie der Hippies, alle Menschen könnten sich miteinander austauschen. Der Physiker Tim Berners entwickelte am Cern in Genf die Verbindungssoftware, und das Internet war lanciert. Erst ging alles langsam, weil man sich über ein Modem in das Netz schalten musste, aber seit wir permanent online sind, sind wir permanent online.

Das Internet und die Fake News

Wie jede neue Technologie erwies sich die Wirkung des Internets als ambivalent. Erst schien es die Menschen zusammenzubringen, global wurde lokal, der Student im neuseeländischen Wellington konnte sich mit dem amerikanischen Physikprofessor in Harvard austauschen. Später mussten wir erkennen, dass die Hasskampagnen in den sozialen Medien, der Aufstieg von Populisten in Ländern wie Polen, Italien Ungarn, Grossbritannien oder den USA neue Probleme bereiteten, zu denen das Internet verschärfend beitrug, statt sie zu mildern. Fake News gab es schon immer. Aber noch nie hatten sie eine dermassen grosse Wirkung.

Die Neunziger sind das dritte Jahrzehnt, das Jens Balzer analysiert hat. Als hätten ihn seine Ausflüge ermattet, sagt er im Gespräch, es sei jetzt von ihm kein Buch über die Nullerjahre zu erwarten. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass so viele Entwicklungen der Neunziger in die Gegenwart ausstrahlen. Oder aber dass die letzten beiden Jahrzehnte noch zu jung sind, als dass sie schon in die Geschichte abgesunken wären.

Jens Balzer: «No Limits. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit». Berlin, Rowohlt, 2023, 387 Seiten, ca. 40 Fr. 

Dieser Artikel wurde erstmals am 22. Juni 2023 publiziert. Anlässlich des grossen 90er Tages auf SRF 3 am 1. März haben wir ihn nochmals aktualisiert.