Analyse zum Brexit-DilemmaLondon hat keine echten Freunde mehr
Statt post Brexit weltweit mit frischem Selbstbewusstsein aufzutreten, muss Boris Johnson Washingtons Vorgaben folgen – was seine Lage nur weiter erschwert.
Noch setzen sich die Unterhändler beider Seiten allmorgendlich brav an die Verhandlungstische. Niemand hat die Gespräche vorzeitig beendet über das künftige Verhältnis zwischen Grossbritannien und der EU. Britische Minister dementieren, dass sie einen Verhandlungsabbruch planen. Londons regierungsnaher «Daily Telegraph» behauptet allerdings zu wissen, dass es inzwischen wenig Sinn hat, noch auf einen erfolgreichen Ausgang zu hoffen – weil Premier Boris Johnson ans Zustandekommen einer vertraglichen Vereinbarung mit Brüssel nicht mehr glaubt.
China, die neue Wirtschaftsmacht, war ja einmal der grosse Preis für Pro- und Anti-Europäer auf der Insel zugleich.
Die Zielstrebigkeit, mit der Londons Brexit-Hardliner dem langersehnten Bruch mit der EU und einer neuen, unbekümmerten Rivalität mit Europa zusteuern, ist dabei umso bemerkenswerter, als sich just massive Wolken vor die sonnige Johnson-Vision eines «wahrhaft globalen Britannien» geschoben haben. Länder wie Indien und Japan zeigen, anders als von London erwartet, keine Eile mit einem neuen Handelsvertrag. Und die Beziehungen zu Russland haben sich spürbar verschlechtert. Ernste Beschuldigungen gegen den Kreml sind zu hören, und britische Sanktionen gegen russische Geschäftsleute haben die Kluft vertieft.
Vor allem aber steht die Beziehung zu China auf der Kippe. China, die neue Wirtschaftsmacht, war ja einmal der grosse Preis für Pro- und Anti-Europäer auf der Insel zugleich. David Cameron hatte im Jahr vor dem Brexit-Referendum noch die «goldene Ära» britisch-chinesischer Beziehungen gefeiert. Boris Johnson strich heraus, wie chinafreundlich, er sei.
Chinesisches Kapital sollte in die britische Industrie fliessen, in zukunftsträchtige Technologien, in neue Atomkraftwerke im Vereinigten Königreich. Neben solchen Investitionen war die Öffnung chinesischer Märkte für britische Exporte ein Kernstück des geplanten Aufbruchs, der weltumspannenden Brexit-Vision. Jetzt jedoch, in diesem Juli, ist von der Vision nicht viel geblieben. Peking droht London neuerdings Strafmassnahmen an.
Für Peking ist der Huawei-Rückzieher schlicht ein Zeichen dafür, dass die Briten Washington auf dem Weg in einen neuzeitlichen Kalten Krieg gegen China zu folgen bereit sind.
Nicht nur hat der Streit um Hongkong das Verhältnis ernsthaft zerrüttet. Auf britischer Seite hat man auch andere chinesische Menschenrechtsverstösse entdeckt, die früher keine Rolle spielten, die man im Rausch der «goldenen Ära» lieber übersah. Vor allem aber hat Boris Johnsons Kehrtwende in Sachen Huawei, haben plötzliche Zweifel an lang vereinbarten Nuklear-Geschäften die chinesische Führung, der diese Projekte äusserst wichtig sind, in Rage versetzt.
Für Peking ist der Huawei-Rückzieher schlicht ein Zeichen dafür, dass die Briten Washington auf dem Weg in einen neuzeitlichen Kalten Krieg gegen China zu folgen bereit sind. Aus seinen diesbezüglichen Erwartungen an London, seinem Verlangen nach britischer Vasallentreue, hat der US-Präsident in den letzten Wochen ja kein Geheimnis gemacht. Und angewiesen auf wenigstens einen vorzeigbaren grossen Handelsvertrag für die Post-Brexit-Ära, ist Boris Johnson kaum etwas anderes übrig geblieben, als sich dem Willen Donald Trumps zu fügen.
Der alte Freibeuter-Traum der Brexiteers von einem von allen Fesseln befreiten, weltweit lustig Handel treibenden Britannien droht so schon jetzt an den Realitäten zu scheitern. Selbst manche Brexit-Wähler fragen sich, ob sie einer Fantasie aufgesessen sind.
«Der Rückzug aus der EU hat uns ohne Freunde gelassen», klagt Londons hartnäckig pro-europäischer «Guardian». «Ein Post-Brexit-Land aber, das von der Pandemie geschwächt ist, wird wirtschaftlich besonders verwundbar sein.» Umfragen zufolge dringen mittlerweile selbst Brexit-Wähler darauf, dass Johnson alles daransetzt, noch einen Deal mit der EU zu finden. Dass die Unterhändler nicht zum Schein am Verhandlungstisch sitzen. Dass sie den Sprung über die Klippe noch verhindern. Dass man sich von den alten Partnern nicht im Streit trennt.
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