2000–2025 im RückblickDas sind die besten Bücher der letzten 25 Jahre
Sibylle Berg, Christian Kracht oder Joanne K. Rowling haben Bücher geschrieben, die Geschichte geschrieben haben. Es lohnt sich heute noch, sie zu lesen.
![Verschiedene Porträtfotos von acht Personen vor einem dunkelvioletten Hintergrund, jedes mit einem farbigen Filter versehen.](https://cdn.unitycms.io/images/BMEe6ONGq6Y82T1HXv54kC.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=fiukjIY0j2M)
Was haben «Harry Potter» und «Meine geniale Freundin» und «GRM. Brainfuck» gemeinsam? Es sind Bücher, die im ersten Viertel des neuen, des 21. Jahrhunderts erschienen sind und die uns so beeindruckt haben, dass wir glauben: Sie werden auch in den nächsten Jahrzehnten gelesen werden. Im Folgenden also: ein Rückblick mit zehn Empfehlungen, subjektiv geprägt natürlich – und ebenso natürlich mit Schweizer Schlagseite.
Joanne K. Rowling: Die Harry Potter-Saga (7 Bände, 1998–2007)
![Buchcover von ’Harry Potter und der Stein der Weisen’ mit einem Schachbrettmotiv und Figuren, die eine Schlacht andeuten, wobei Harry Potter im Vordergrund steht.](https://cdn.unitycms.io/images/2avVS0jY4nLAL0CqRlS6_x.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=pan6ZQkOXNU)
Ein Kinderbuch? Nicht doch! Obwohl die Geschichte um den Zauberjungen mit der Zackennarbe auf der Stirn viele Millionen Kinder auf der ganzen Welt zu Leseratten gemacht hat. Nein, was Joanne K. Rowling über 15 Jahre, 7 Bände und 4200 Seiten zusammenfabuliert hat, gehört in eine Reihe mit den grossen Zyklen der Weltliteratur. Es ist eine ungemein raffinierte Kombination von Internatsgeschichten, Bildungsroman und Zauberei-Fantasie, mit einer riesigen Galerie einprägsamer (und ambivalenter!) Gestalten und unendlich vielen Einfällen, die aus dem Fundus der europäischen Literatur und Fantastik schöpfen und ihn mit eigenen bereichern. Und ein Werk, das den Weg über die Verfilmung in die Wirklichkeit gefunden hat: Merchandising, Themenparks, Harry-Potter-Touren, sogar reale Wettkämpfe in einer Disziplin, die Ms. Rowling erfunden hat: Quidditch.
Christian Kracht: 1979 (2001)
![Buchcover des Romans ’1979’ von Christian Kracht mit zwei verrosteten Schiffswracks in einer Wüstenlandschaft.](https://cdn.unitycms.io/images/2DA6tzkIqgyBAzGFmwZQQx.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,873,812,145,69&sum=e5rYNRwGBPg)
Ein zerstrittenes, homosexuelles Bohemien-Paar reist 1979 durch den Iran. Der Icherzähler ohne Namen ist Innenarchitekt, wohingegen sein Freund Christopher darum besorgt ist, dass seine Beluti-Schuhe nicht zu arg verstauben. Christopher stirbt nach zu viel Drogen und Alkohol am Tag nach einer Jetset-Party in Teheran. Da ergreift auch gerade Ayatollah Khomeini die Macht. Der Icherzähler wird nach Tibet geschickt, dort will er einen Berg umlaufen, wird aber von der chinesischen Armee gefasst, angeblich soll er ein russischer Spion sein, und landet in einem chinesischen Arbeitslager.
Der Icherzähler hatte bisher keinen Bezug zu anderen Menschen. Sein Individualismus hat er sich in einem Leben aus Äusserlichkeiten eingerichtet, aber im Lager empfindet er so etwas wie Heimat. Christian Kracht ist einer der Schriftsteller, die um die Jahrtausendwende als «Popliteraten» berühmt wurden: Autoren, die mit einer kühlen, oft ironischen Haltung den Zeitgeist und gesellschaftliche oder ästhetische Phänomene beschrieben. Was man sich nach dem Lesen von «1979» denn auch fürs Leben merken kann: Ein gescheites Paar Schuhe muss man einfach besitzen.
Markus Werner: Am Hang (2004)
![Buchcover des Romans ’Am Hang’ von Markus Werner, zeigt eine Frau in grüner Kleidung neben einem Tisch. Sonderausgabe in Leinen.](https://cdn.unitycms.io/images/0BPfl9FBaPDAM2LaO28Mx7.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=kU0wtX7QtyU)
Markus Werners sieben Romane gehören zu den schönsten der gesamten Schweizer Literatur. «Am Hang» ist sein letzter geworden, auch sein offenster, kunstvollster, rätselhaftester. Was verbindet den verbitterten, schwerblütigen Loos mit dem leichtlebigen Anwalt Clarin? Ist es dieselbe Frau, die der eine verloren, der andere abserviert hat? Wie Werner diese beiden unterschiedlichen Charaktere an zwei weinseligen und doch hellwachen Abenden auf einer Hotelterrasse miteinander ins Gespräch bringt, über die grossen Kränkungen des Menschseins, über tragische Vorfälle und groteske Details, wie er sie, sprachlich dicht und variabel, in eine künstlerische und stilistische Balance bringt und am Schluss den einen zum Autor dessen, was wir gerade gelesen haben: Das ist ein Lesevergnügen höchsten Grades.
Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf (2010)
![Buchcover von ’Tauben fliegen auf’ von Melinda Nadj Abonji, zeigt ein Auto auf einer Landstrasse vor karger Landschaft.](https://cdn.unitycms.io/images/AgxQawyE4Rk9v2JZZKmt6R.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=izstO2221Yc)
Ildiko und Nomi, die Töchter, halten es schwer aus, dass ihre Eltern mit aller Kraft versuchen, die besseren Schweizer zu sein, und dafür bereit sind, Demütigungen hinzunehmen. Die autobiografischen Züge werden im Roman nicht verheimlicht. Die Autorin kam in einer serbischen Provinz zur Welt und fünfjährig in die Schweiz mit ihrer Familie. «Tauben fliegen auf» erzählt davon, was die psychische Belastung, die eine Entwurzelung aus der Heimat und ein Ankommen in der Fremde, die zur neuen Heimat werden soll, bedeutet.
Neben der musikalischen Sprache und der besonderen psychologischen Beobachtungsgabe von Melinda Nadj Abonji wird kein einziges Klischee bedient. Keine Integrationsromantik, nein, dieser bildstarke Roman beweist, dass es die Einwanderer sind, die neue Themen und Perspektiven in die deutschsprachige Literatur bringen. Und so wurde die Autorin 2010 mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. «Tauben fliegen auf» ist eines der wichtigsten Bücher der sogenannten Migrationsliteratur.
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin (4 Bände, 2011–2014)
![Buchcover von ’Meine geniale Freundin’ von Elena Ferrante, zwei Frauen in Vintage-Kleidern schauen auf das Meer.](https://cdn.unitycms.io/images/3pzswNXtqNyBBeQ2Jz4Fn7.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=9iRFTFc2LRM)
Ein überwältigendes Leseerlebnis, ein literarisches Wunder: 2000 Seiten, die man sich reinziehen kann wie eine TV-Serie und zugleich geniessen wie ein Werk der Hochliteratur, das es ist. Elena Ferrante (ein bis heute nicht gelüftetes Pseudonym) erzählt von zwei Mädchen, die im Armenviertel Neapels aufwachsen, von den 1950er- bis in die 1990er-Jahre, erzählt die Geschichte Italiens, Nachkrieg, Postfaschismus, Mafia, Wirtschaftswunder, Feminismus, Korruption, erzählt von zwei Frauen, die unterschiedliche Wege in einer Männerwelt gehen, die in Liebe, Neid, Hass und tiefem Verständnis einander verbunden sind. Am Schluss ist die «geniale», die rätselhafte, brillante, gescheiterte Lila verschwunden, die konventionellere, bravere, erfolgreichere Elena rekonstruiert ihr Leben, erzählt es uns. Wir bekommen nicht genug davon.
Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit (2013)
![Buchcover von ’Secondhand-Zeit’ von Swetlana Alexijewitsch mit einer Frau, die eine rote Fahne mit Hammer und Sichel trägt.](https://cdn.unitycms.io/images/4_oP5rjSK3eBGyJ2e6KNgE.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=A1RtatWfIVU)
Sie hat sowjetische Soldatinnen des Zweiten Weltkrieges, Soldatenmütter und Veteranen des Afghanistankriegs zum Sprechen gebracht und aus journalistischem Material eine eigene Kunstform gemacht. Dafür bekam die ukrainisch-weissrussische Autorin 2015 den Literatur-Nobelpreis. «Secondhand-Zeit» entwirft, wieder auf der Grundlage von Interviews und «Küchengesprächen», ein Psychogramm des deformierten postsowjetischen Menschen im Putin-Reich: gegängelt und verschreckt, unfähig, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Alexijewitsch schreibt eine Gegengeschichte zur offiziellen Propaganda. Ihre Bücher helfen, zu verstehen, worauf Putins Macht jenseits von Repression beruht.
Dave Eggers: Der Circle (2013)
![Buchcover von ’Der Circle’, Roman von Dave Eggers, roter Hintergrund mit grauem Kreis und stilisiertem C-Logo.](https://cdn.unitycms.io/images/D0yUkKsJ4Tm82Z0QZb2O8w.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=nXck08O_rtQ)
Unter allen Dystopien wohl die furchteinflössendste: Ein globaler Konzern, eine Art Super-Google-Apple-Microsoft-Facebook, hat nahezu die gesamte Menschheit erfasst, zu Kunden gemacht. Denn der Mensch ist nur mehr Kunde, sein Wesenskern eine Matrix aus Vorlieben, sein sozialer Wert hängt von den «ratings» ab, die er bekommt und vergibt. Der Staat ist gegenüber diesem Superdienstleister machtlos, die Masse – der Durchschnittsgeschmack – gibt den Ton an.
Dave Eggers hat Globalisierung, Digitalisierung, Kapitalismus und direkte Demokratie zu einer Zukunftsvision zusammengefügt, die unserer Gegenwart immer mehr ähnelt. Im Zentrum seines Romans steht ein All-American Girl. Die Käseglocke ihres beschränkten Bewusstseins verlässt die Prosa Eggers’ mit keinem Satz. Furchtbar konsequent auch das.
Jonas Lüscher, Kraft (2017)
![Buchcover des Romans ’Kraft’ von Jonas Lüscher, C.H. Beck Verlag, mit schwarzem Rissmotiv.](https://cdn.unitycms.io/images/2yZuiSAkqYJ9CE0Fsfkkb4.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=LB-5se-X56U)
Gerade scharen sich die Techmilliardäre des Silicon Valley um den Wiedergänger Trump: Werden ihre Allmachtsfantasien endlich Wirklichkeit? Jonas Lüschers erster Roman hat einen unerwarteten Aktualitätsschub erhalten. Er lässt einen alteuropäischen Intellektuellen im fortschrittsgläubigen, optimierungssüchtigen Kalifornien scheitern – an einer philosophischen Grundsatzfrage, mehr noch aber an seiner Ichbezogenheit und einem Mangel an Empathie. «Kraft» ist ein hochkomplexer Roman, ein anspruchsvolles Buch für kluge Köpfe, getränkt in Ironie, voller Bezüge, die sich erst am Schluss auflösen, ein Beweis auch für die Kraft, die in der Schweizer Literatur steckt.
Sibylle Berg: GRM. Brainfuck (2019)
![Buchcover von ’GRM: Brainfuck’ von Sibylle Berg, rot gestaltet mit geometrischen Mustern und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch.](https://cdn.unitycms.io/images/07Km2PBK4hN961qC2NQr9G.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=h03OJEuZyYc)
Es ist nicht weniger als eine Generalabrechnung mit der Gegenwart. Sibylle Berg ist bekannt dafür, wie sie das Zwischenmenschliche seziert, beneidenswerte Dialoge schreibt und an den Menschen selten ein gutes Haar lässt (wobei man ihr oft recht geben muss). Mit «GRM. Brainfuck» hat die Frau 600 Seiten über das Thema Überwachung geschrieben. Don, Karen, Hannah und Peter, die Protagonistinnen des dystopischen Berg-Panoptikums, planen eine Revolution. GRM? Steht für Grime, eine Mischung aus Hip-Hop und Electro, in den Strassen Londons entstanden. Grime bringt den Beat ins Buch, während rechtspopulistische Regierungen stärker werden, die totale Überwachung voranschreitet, Algorithmen wichtiger werden als Menschen – 2019 noch als dystopischer Roman gelabelt, heute ist man gar nicht mehr so sicher. Dieses Buch ist ein Pflasterstein des Wahnsinns und der Zärtlichkeit. Irgendwo dazwischen findet das Leben statt.
Sally Rooney: Gespräche mit Freunden (2019)
![Buchcover von ’Gespräche mit Freunden’ von Sally Rooney, zeigt eine Frau, die auf einem Stuhl sitzt und telefoniert.](https://cdn.unitycms.io/images/Fj-3yPClqUSA4TCjVNTtaB.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=NayJs4USTIo)
Sally Rooney ist die Stimme der Millennials. Sie war in den USA, Irland und England schon ein Shootingstar, als ihr Debüt 2019 auf Deutsch erschien. Der Titel ist unprätentiös und Understatement im Roman Programm. Ihre Twentysomething-Figuren Bobbi und France chatten nachts und mailen tagsüber – aber egal zu welcher Tageszeit: Es wird über Polyamorie nachgedacht und sehr viel über Gefühle geredet. Und der Kapitalismus soll zerstört werden, ganz nebenbei. Mit Melissa und Nick flirten Bobbi und France übers Kreuz, Drama vorprogrammiert. Das «Ich» steht immer im Zentrum, hie und da kommen Selbstzweifel dazu, ab und an eine Therapie.
Rooney findet einen unverwechselbaren Ton, schafft ein Porträt eines Milieus, das auf allen digitalen Kanälen kommuniziert, auch wenn dabei manchmal wenig ausgesagt wird. Der Hype war damals absolut berechtigt, aber irgendwann entwächst man als Leserin den Themen ihrer Figuren. Für eine kurze Zeit war das Leben mit Sally Rooney aber ziemlich gut zu ertragen.
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