Krieg im Nahen Osten Folgt bald eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen?
Israel hat die «vollständige Belagerung» des Gazastreifens angeordnet. Militärexperten rechnen mit einer Invasion. Möglicherweise wird die Hizbollah als zweite Front dem Krieg beitreten.
Auch am dritten Tag nach dem überraschenden Angriff der Hamas auf Israel gehen die Kämpfe in der Region weiter. «Das israelische Militär hat weite Gebiete wieder unter Kontrolle gebracht», sagt der israelische Militärsprecher Arye Sharuz Shalicar im Gespräch. In wenigen Ortschaften im Süden des Landes komme es jedoch vereinzelt noch zu Kampfhandlungen. Unter dem Operationsnamen «Iron Swords» (Eiserne Schwerter) hatte das israelische Militär nach dem Angriff der Hamas mit einer Gegenoffensive begonnen.
In der Nacht von Sonntag auf Montag wurden dabei Hunderte Ziele im Gazastreifen angegriffen. Das erklärte Ziel: die militärischen und regierungstechnischen Kapazitäten der Hamas und des islamischen Jihad so zu zerstören, «dass sie für viele Jahre nicht mehr in der Lage und bereit sind, die Bürger Israels zu bedrohen und anzugreifen», gab das Büro von Regierungschef Benjamin Netanyahu nach einer Sitzung des Sicherheitskabinetts am Sonntag bekannt.
Katar will Gefangenenaustausch herbeiführen
Um zu vermeiden, dass bei den Angriffen im Gazastreifen auch Zivilisten ums Leben kommen, hatte Premierminister Netanyahu die Zivilbevölkerung dazu aufgefordert, Gebäude zu verlassen, in denen sich Hamas-Posten befinden. Aus früheren Operationen ist jedoch bekannt: Die Hamas nutzt Zivilistinnen und Zivilisten oft als menschliche Schutzschilde. Mehr als hundert Geiseln hat die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel in den Gazastreifen verschleppt. In israelischen Medien heisst es, das arabische Land Katar versuche, einen raschen Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas herbeizuführen.
Die israelische Armee scheint die Situation am Boden wieder unter Kontrolle gebracht zu haben, die Raketen der Hamas fliegen jedoch weiter. Bei einem Beschuss am Montag heulten vielerorts die Sirenen. In den beiden südlichen Städten Ashdod und Ashqelon wurden nach Angaben des Rettungsdienstes Magen David Adom mehrere Menschen verletzt. Kurz zuvor hatte der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant erklärt, dass er eine «vollständige Belagerung» des Gazastreifens angeordnet habe. «Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen.» Auch die Wasserversorgung wird mit sofortiger Wirkung unterbrochen.
«Es ist ein massives Versagen der Geheimdienste, des Shin Bet und der Regierung.»
Die Luftangriffe auf den Gazastreifen sind für den Politikwissenschaftler und Militärexperten Carlo Masala erst der Beginn der israelischen Gegenoffensive. Sobald die Souveränität Israels wiederhergestellt ist, sei von einer gross angelegten Bodenoffensive der israelischen Armee im Gazastreifen auszugehen. Der ehemalige Verteidigungsminister Avigdor Libermann forderte bereits eine solche Invasion.
Seit Samstag mobilisierte Israel rund 300’000 Reservisten. Doch wie konnte es überhaupt zu dem Überfall der Hamas kommen, und warum war das Militär anscheinend so überrascht? «Es ist ein massives Versagen der Geheimdienste, des Shin Bet und der Regierung», sagte Masala. Entweder hätten die Stellen nichts mitbekommen, oder es seien so viele Informationen, dass sie diese nicht miteinander hätten verbinden können.
«Die fehlende Information war, dass der Angriff am Samstag stattfinden soll».
Raketenangriffe der Hamas sind nichts Neues. Doch bisher wurden sie meistens durch das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome abgewehrt. Dieses sonst so bewährte System schien am Samstag mit dem Angriff überfordert gewesen zu sein. Auf Bildern und Videos ist zu sehen, dass die Hamas Hunderte Raketen innerhalb von kürzester Zeit abgefeuert hat – möglicherweise mehr, als das Iron-Dome-System bewältigen konnte.
Dass es der Hamas gelungen ist, das System offenbar auszuspielen, könnte gemäss «New York Times» darauf hinweisen, dass die Angreifer am Samstag erstmals ein neues Raketensystem mit dem Namen Rajum genutzt haben. Ausserdem verwendete die Hamas kleine Drohnen, die Munition auf israelische Militärstellungen abwarfen.
Was passiert im Norden des Landes?
Militärsprecher Arye Sharuz Shalicar sagt, dass Israel natürlich beobachtet habe, dass in Gaza Raketen entwickelt und Waffen stationiert würden. «Die fehlende Information war, dass der Angriff am Samstag stattfinden soll», sagte er. Überdies habe niemand damit gerechnet, «dass die Terroristen über Land kommen und so barbarisch Menschen töten». Noch immer gebe es offene Stellen an der Grenze zu Gaza, über die Terroristen ein und aus gingen. Diese zu schliessen, sei Priorität. Derzeit versuche die israelische Armee, «das grosse Ganze» im Blick zu behalten. «Was passiert im Norden des Landes mit der Hizbollah, was macht der Iran, und was geschieht hier?», sagt Shalicar.
Für ihn wie für Masala ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Hizbollah als zweite Front dem Krieg beitreten wird. «Der Iran hat kein Interesse, dass die Hamas in Israel aus dem Spiel genommen wird», sagte Militärexperte Masala. Sollte sich die schiitische Hizbollah-Miliz, die dem Iran nahesteht, tatsächlich den Kämpfen anschliessen, könnte ein regionaler Flächenbrand entstehen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.