Guten Willen signalisierenKehrtwende zur Kohäsionsmilliarde zeichnet sich ab
Seit dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen hat die EU der Schweiz diverse Nadelstiche verpasst. Trotzdem hat eine Freigabe der Kohäsionsmilliarde im Parlament nun gute Chancen.
Die Schweiz soll nur dann eine weitere Kohäsionsmilliarde an die Europäische Union zahlen, wenn diese auf diskriminierende Massnahmen verzichtet. So hatte es das Parlament 2019 beschlossen. National- und Ständerat stimmten einem Antrag des Zürcher FDP-Ständerats Ruedi Noser zu. Damals ging es vor allem um die Börsenäquivalenz. Die EU beschloss anschliessend dennoch, die Schweizer Börsenregulierung nicht mehr als gleichwertig anzuerkennen. Seither ist viel passiert: Der Bundesrat hat die Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU abgebrochen, die EU hat die Erneuerung des Abkommens über Medizinalprodukte verweigert und die Schweiz aus der Forschungszusammenarbeit ausgeschlossen.
Beim Verhandlungsabbruch hatte der Bundesrat begleitende Massnahmen angekündigt, welche die EU besänftigen sollen. Dazu gehört eine rasche Deblockierung der Kohäsionsmilliarde, die aus Sicht der EU längst fällig ist. Konkret will der Bundesrat dem Parlament beantragen, die 2019 beschlossene Bedingung aus dem Bundesbeschluss zu streichen. Die Botschaft dazu dürfte er gleich nach den Sommerferien verabschieden. Das Geschäft ist im August in den Aussenpolitischen Kommissionen traktandiert.
Andere Ausgangslage
Trotz – oder vielleicht wegen – der Nadelstiche aus der EU sprechen sich Aussenpolitikerinnen und -politiker aus allen Fraktionen ausser der SVP für die Streichung der Bedingung und die Freigabe der Kohäsionsmilliarde aus. Auch die FDP, welche die Diskriminierungsklausel eingebracht hatte, will sie nun streichen. Die FDP-Deputation werde sich in den Kommissionen dafür aussprechen, sagte der Zürcher FDP-Aussenpolitiker Hans-Peter Portmann auf Anfrage.
Die Klausel sei kein Fehler gewesen, doch sei die Ausgangslage nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen eine andere. Die Freigabe der Kohäsionsmilliarde sieht Portmann als Zeichen an die EU: als Zeichen dafür, dass die Schweiz um den Wert des Zugangs zum Binnenmarkt weiss. Nach dem Ausschluss aus dem EU-Forschungsprogramm «Horizon» drohe eine Abwanderung von Talenten.
Dringliches Massnahmenpaket
Bis auf weiteres wird die Schweiz beim Rahmenprogramm «Horizon» als nicht assoziierter Drittstaat behandelt. In der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Forschung fordert die FDP, dass schnellstmöglich Verhandlungen für eine Vollassoziierung aufgenommen werden. Daneben müsse ein dringliches Massnahmenpaket verabschiedet werden, das der Schweiz ermögliche, sich weltweit als Exzellenzstandort für Forschung und Innovation zu etablieren. Konkret sollen die Schweizer Universitäten, ETH und Fachhochschulen Geld erhalten, um internationale Wettbewerbe auszuschreiben. Diese sollen besser finanziert sein als jene der EU und damit «die weltweite Spitze der Forschung in die Schweiz ziehen».
Auch die Mitte-Partei will die Kohäsionsmilliarde nicht mehr an Bedingungen knüpfen. Sie hat sich bereits unmittelbar nach dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen für die Freigabe der Gelder ausgesprochen. «Ich bin überzeugt, dass es dafür eine Mehrheit im Parlament gibt», sagt die Baselbieter Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter. Die Schweiz müsse nun zeigen, dass sie gewillt sei, etwas zu geben für den Zutritt zum Binnenmarkt. Der Ausschluss aus «Horizon» treffe nicht nur Forschende, sondern auch Unternehmen hart. Sie erhalte täglich E-Mails mit Hilferufen von Unternehmen.
Kooperationsabkommen anstreben
Die SP war ohnehin immer dagegen gewesen, die Kohäsionsmilliarde an Bedingungen zu knüpfen. Entsprechend wird sie sich für die Freigabe der Gelder aussprechen, wie der Baselbieter SP-Nationalrat Eric Nussbaumer sagt. Mit Blick auf den Ausschluss aus «Horizon» plädiert er für ein Kooperationsabkommen mit der EU: ein Abkommen, das die Zusammenarbeit in der Forschung, beim Austausch von Studierenden und beim Weltraumprogramm der EU regeln würde. Ein Dachabkommen für Kooperationen entspricht einer Forderung der EU.
Der Bundesrat müsse die Freigabe der Kohäsionsmilliarde und die Multiprogramm-Vereinbarung zur Assoziierung an die EU-Programme parallel behandeln, fordert Nussbaumer. Cassis’ Credo «Aussenpolitik ist Innenpolitik» müsse auch diesen Herbst gelten. Ausserdem braucht es aus Nussbaumers Sicht nun nicht bloss Gespräche, sondern einen strukturierten Dialog mit der EU.
«Das Parlament macht sich unglaubwürdig»
Widerstand kündigt die SVP an. «Wir lehnen Kohäsionszahlungen an sich ab – insbesondere dann, wenn sie als Voraussetzung für einen offenen Binnenmarkt bezahlt werden müssen», sagt SVP-Präsident und Aussenpolitiker Marco Chiesa. Leider sei davon auszugehen, dass die anderen Parteien, insbesondere die Mitte und die FDP, ihre eigenen roten Linien aufweichen und ihre Versprechen brechen würden. Der St. Galler SVP-Vertreter Roland Büchel stellt fest: «Damit macht sich das Parlament unglaubwürdig.»
National- und Ständerat werden in der Herbstsession entscheiden. Die Kohäsionsmilliarde umfasst 1,3 Milliarden Franken, die über zehn Jahre ausbezahlt werden sollen. Der grösste Teil ist für Projekte in Osteuropa vorgesehen. Ein kleinerer Teil soll an Staaten gehen, die besonders von Migration betroffen sind.
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