Nachfolger von Trudeau in KanadaWie Trump ausgerechnet einem liberalen Politiker zum Wahlsieg verhelfen dürfte
Viele Kanadier wollen vor den Neuwahlen einen Wechsel. Ähnlich klang es zuletzt in den USA. Gemäss Umfragen hat der liberale Kandidat Mark Carney nun aber den konservativen Pierre Poilievre überholt.

- Die kanadischen Konservativen setzen mit Pierre Poilievre auf einen Trump-ähnlichen Wahlkampfstil.
- Die Konservativen rechneten mit einem sicheren Sieg. Dann kam Donald Trump.
- Die Drohungen des US-Präsidenten gegen Kanada beeinflussen den Wahlkampf erheblich.
Warum er über Nacht zu einer Internetberühmtheit wurde, kann Kyle Mero immer noch nicht ganz nachvollziehen. «Ich wollte Justin doch nur wissen lassen, dass ich nicht zufrieden war damit, wie es unserem Land geht», sagt er. Passend zu Kanada hat er das «Blockhouse Pub» vorgeschlagen, um von seiner Begegnung mit «Justin» zu erzählen. Justin Trudeau, langjähriger Premierminister. Dieser wollte sich mit Stahlarbeitern filmen lassen, er verteilte Donuts und schüttelte allerlei Hände. Mero verweigerte den Händedruck und prophezeite, Trudeau werde nicht mehr lange Premierminister bleiben.
Das Video mit Trudeaus verdutztem Gesicht ging um die Welt. Das war im September, vier Monate später trat der Premierminister von der Liberalen Partei zurück, Ende April finden vorgezogene Wahlen statt. Der Wahlkampf ist reich an Überraschungen. Die Konservativen rechneten mit einem sicheren Sieg. Dann drohte Donald Trump mit Strafzöllen und redete von Kanada als seinem 51. Staat. Plötzlich führt nun in den Umfragen die Liberale Partei unter ihrem neuen Chef, dem früheren Zentralbanker Mark Carney.
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Mitten in diesem tumultuösen Wahlkampf sitzt Kyle Mero bei einem Bier im Blockhouse Pub. Er wird später darauf bestehen, die gesamte Rechnung zu bezahlen, der Reporter sei zu Gast. So gehört sich das im Norden von Ontario, im Städtchen Sault Ste Marie. «The Soo», sagen die Einheimischen. Der Name kommt von den Stromschnellen im Saint-Marys-Fluss, die hier Kanada und den US-Bundesstaat Michigan voneinander trennen.
Mero gehört zu den Arbeitern, um deren Stimmen die Politiker werben, dunkler Dreitagebart, weinrotes Langarm-Shirt, Jeans, Arbeitsschuhe, Baseballmütze mit Kanada-Logo. An diesem Tag konnte er das Stahlwerk ausnahmsweise vor Ende der Schicht verlassen. Es liegt nebenan, aus einem Schlot steigt dunkler Rauch auf, der Geruch von Feuerwerk wabert durch die Stadt. Mero fällt das nicht mehr auf, er wohnt seit zehn Jahren hier oben, arbeitet als Elektriker 12 Stunden pro Schicht, 60 Stunden pro Woche. Der Job gefällt ihm, die Überstunden sind gut bezahlt. «Ich habe ein bequemes Leben», sagt er. 38 Jahre alt, verheiratet, die Mädchen vier und acht Jahre alt, ein Häuschen mit Garten. Mero verbringt seine Freizeit gern in der Natur. Eislaufen und Fischen lässt sich zwischen Lake Superior und Huron-See besonders gut.
Doch es läuft etwas schief in seinem Land, ist Kyle Mero überzeugt. Lange interessierte er sich nicht besonders für Politik. Bis Justin Trudeau die Polizei gegen Protestlager von Lastwagenfahrern schickte, die gegen Covid-Einschränkungen demonstrierten. Kyle Mero wendete sich den Konservativen zu. «Wir brauchen einen Wechsel», sagt er nun. «Ich arbeite Tag für Tag, um vorwärtszukommen. Aber es wird alles immer teurer, right?» Ganz ähnlich klang es in den USA, bevor Trump gewählt wurde. Der Republikaner gewann bei den Arbeitern, obwohl sie mit ihren Gewerkschaften lange den Demokraten nahe gestanden waren.
Die Trump-Strategie versucht der Parteichef der Konservativen in Kanada zu kopieren. Pierre Poilievre gilt als Mini-Trump mit seinem provokativen Wahlkampfstil – zumindest gemessen an den sittsamen Standards der kanadischen Politik, Schulfernsehen im Vergleich mit dem Nachbarland. «Es hat eine zarte Seite», singt Countrysänger Brett Kissel in einer Liebeserklärung an die Heimat, mit der Poilievre seine Wahlkampfauftritte eröffnet.
An einem eisigen Aprilabend in Sault Ste Marie erinnerte der 45-jährige Berufspolitiker höchstens entfernt an Trump. «Verbrechen und Chaos herrschen auf unseren einst sicheren Strassen», sagte er in der Papierfabrik, vor Jahren stillgelegt und zu einem Kulturzentrum umgebaut. «Jail not bail» lautet einer seiner Slogans: Straftäter einsperren statt auf Bewährung freilassen. Doch während Trump behauptete, Migranten kämen aus «Irrenhäusern und Gefängnissen», zieht Poilievre keine direkte Verbindung zwischen Kriminalität und Einwanderung. Er sagt sogar, das mit 40 Millionen Einwohnern spärlich besiedelte Riesenland brauche Neuankömmlinge. Aber weniger als die zuletzt mehr als 400’000 pro Jahr. Arbeitsmarkt, Häusermarkt und Gesundheitswesen hielten nicht Schritt, sagt Poilievre.

Mehr Trump würde die Mehrheit der Kanadier wohl nicht goutieren. Schon jetzt sieht sich Poilievre mit dem Vorwurf konfrontiert, zu sehr wie der Nachbar zu klingen. Seine Ausgangslage ist schwierig. Als Premierminister müsste er sein Land gegen Trumps Angriffe verteidigen. Doch während seiner Rede von 45 Minuten in Sault Ste Marie erwähnte er den US-Präsidenten nur zweimal. Lieber redete er über den Abbau von Bürokratie und eine neue Pipeline für mehr Öl- und Gasexporte nach Europa. Das soll die Rezession dämpfen, die Trumps Strafzölle in Kanada auslösen könnten.
Poilievre weiss, dass ein Teil seiner Wähler allergisch reagiert auf Trump – während andere dessen Politik gutheissen. Zu Letzteren gehört Connor Farrell, einer von gegen 2000 Zuhörern in Sault Ste Marie. Der 26-jährige Maschinenbauer trug die Kluft der Arbeiter: Pullover in Tarnfarben, schulterlange Haare, wilder Bart, Baseballkappe der Stahlgewerkschaft. Er hielt ein Schild mit einem Ahornblatt hoch: «Fight Crime», mehr Härte gegen Straftäter und Drogensüchtige. «Wir haben viele Verbrechen, vor allem Morde, in unserer Stadt», sagte Farrell. «Ich fühle mich nicht mehr sicher in meinem Haus.»
«Ich habe Trumps Zöllen meinen Job zu verdanken»
Die Drohungen aus dem Weissen Haus nimmt der junge Kanadier hingegen auf die leichte Schulter. «Ich habe Trumps Zöllen meinen Job zu verdanken», sagt er. Sein Arbeitgeber habe während Trumps erster Amtszeit die Herstellung von Nutzfahrzeugen aus China nach Kanada zurückverlagert. Farrell würde sogar für einen Beitritt seines Landes zu den USA stimmen. «Wir erhielten einen stärkeren Dollar», sagt er. Behalten wolle er aber die kanadische Menschenrechtscharta sowie die grosszügige Krankenversicherung.

Derart Trump-freundliche Stimmen sind eine kleine Minderheit in Ontario, mit 16 Millionen Einwohnern die bevölkerungsstärkste Provinz. Aber Jessica Laidley ist aufgefallen, dass sich die Atmosphäre im ländlichen Nordwesten verändert. «Alle sozialen Schichten sind zuletzt nach rechts gerückt», sagt die Freiwilligenkoordinatorin einer Suppenküche, die der sozialdemokratischen Partei NDP nahesteht, historisch die Partnerin der Gewerkschaften. «Bei uns im Norden der Provinz schwächeln die traditionellen Medien. Viele informieren sich auf den sozialen Medien, und weil wir nahe an den Vereinigten Staaten sind, schwappt die Ideologie hier rüber.»

In einer farbigen Strickjacke sitzt sie am Mittag allein in ihrem Büro unweit des Stahlwerks von Sault Ste Marie. Der Esssaal nebenan ist leer. Seit der Covid-Pandemie gibt es nur noch Lunchpakete zum Mitnehmen. Darunter leidet die Geselligkeit, so wichtig jetzt, da die Probleme mit Fentanyl und Crack in der Stadt gross sind und die Zukunft des Stahlwerks hinter der Suppenküche auf dem Spiel steht. Das Elend ist nicht zu übersehen in der Stadt.
Den Liberalen traut sie nicht, Ideen der Konservativen lehnt sie ab
Sault Ste Marie brauche aber nicht härtere Gesetze, sondern mehr Betreuungsangebote und Therapieplätze, sagt Laidley. «Verbrechen zu bestrafen, die auf Armut oder Drogensucht zurückzuführen sind, lohnt sich statistisch gesehen nicht.» Sie hofft darum, dass die konservative Partei die Wahlen nicht gewinnen wird. Den Liberalen traut sie allerdings ebenfalls nicht. Am liebsten wäre ihr eine Minderheitsregierung zusammen mit der sozialdemokratischen NDP.

Von Trump bedroht, scheinen sich viele Kanadier aber eine starke Regierung zu wünschen. Zwei Wochen vor der Wahl deutet alles auf einen klaren Sieg der Liberalen Partei unter Mark Carney hin. Sie dürfte in der grossen Parlamentskammer eine Mehrheit der 343 Sitze erhalten. Carney redet viel über «change», er geht auf Distanz zu seinem unbeliebten Vorgänger Justin Trudeau.
Er will die verhasste CO2-Steuer für Privathaushalte abschaffen und die Wirtschaft ankurbeln: mehr Handel zwischen den Provinzen, mehr Unabhängigkeit von den USA dank Exporten nach Europa, China, in den Pazifikraum. Weniger Bürokratie für Rohstoffprojekte, ein Energiekorridor für Öl und Gas zwischen Westküste und Ostküste: Das ist Carneys Programm zum Schutz vor Donald Trump, laut Umfragen kommt es gut an.
Aber nicht bei Kyle Mero. Die Aufregung über das Video seiner Begegnung mit Justin Trudeau hat sich inzwischen gelegt, nur selten wird er auf der Strasse noch darauf angesprochen. Nachfolger Mark Carney hat er bisher nicht persönlich kennen gelernt, aber er hält nicht viel von ihm. «Carney steht Trudeau nahe, er war einer seiner Wirtschaftsberater», sagt Kyle Mero. «Unter Carney wird sich nichts ändern.» Der Stahlarbeiter hofft, dass die Umfragen danebenliegen und die Konservativen unterschätzen. Wie im Nachbarland, wo die Wähler von Donald Trump deutlich zahlreicher waren als erwartet.
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