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Deportation ukrainischer Kinder
Internationaler Straf­gerichts­hof erlässt Haftbefehle gegen Putin und seine Kinder­beauftragte

Mutmasslich verantwortlich für die Deportation ukrainischer Kinder: Wladimir Putin, hier auf einem Wirtschaftsforum in Moskau. (16. März 2023)
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Der Internationale Strafgerichtshof hat wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen in der Ukraine Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen. Das teilte das Gericht am Freitag in Den Haag mit. Putin sei mutmasslich verantwortlich für die Deportation ukrainischer Kinder aus besetzten Gebieten nach Russland. Einem entsprechenden Antrag des Chefanklägers Karim Khan auf Ausstellung eines Haftbefehls hatten die Richter stattgegeben.

Es ist der erste Haftbefehl, den das Gericht im Zusammenhang mit mutmasslichen Kriegsverbrechen in der Ukraine erlassen hat. Das Gericht erliess auch einen Haftbefehl gegen Maria Lwowa-Belowa, die russische Beauftragte für Kinderrechte. Auch ihr werden Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit der Deportation ukrainischer Kinder zur Last gelegt.

Putin soll als Befehlshaber zur Verantwortung gerufen werden. Er habe seine zivilen oder militärische Untergebenen unzureichend kontrolliert, wird der Verdacht begründet. Der genaue Text der Haftbefehle wird nicht veröffentlicht, um Opfer und Zeugen zu schützen, wie das Gericht mitteilte.

Auch ihr werden Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit der Deportation ukrainischer Kinder zur Last gelegt: Putins Beauftragte für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa.

Es ist aber unwahrscheinlich, dass Putin tatsächlich auch vor dem Gericht in Den Haag erscheinen wird. Russland erkennt das Gericht nicht an. Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, hatte erst am Donnerstag in einer Pressekonferenz zu möglichen Haftbefehlen gegen Russen gesagt: «Mit dem Organ arbeitet Russland nicht zusammen. Und mögliche Haft-«Rezepte», die von dem Internationalen Gericht ausgehen, sind für uns juristisch nichtig.» Die Entscheidungen des Gerichts hätten keine Bedeutung für Russland. Das Gericht darf ausserdem keine Prozesse in Abwesenheit der Angeklagten führen.

Obgleich die Ukraine das Römische Statut des Internationalen Gerichtshofs nicht ratifiziert hat, erkennt Kiew die Befugnis der Richter für seit 2014 auf ukrainischem Staatsgebiet verübte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegen die Ukraine an. 2015 übergab der ukrainische Aussenminister Pawlo Klimkin in Den Haag eine entsprechende Erklärung. Kurz nach Ausbruch des Krieges, hatte Chefankläger Khan bereits Ermittlungen in der Ukraine aufgenommen.

Russischer Aussenpolitiker: «ungeheuerlich»

In Russland hat der prominente Aussenpolitiker Leonid Sluzki entsetzt auf den Haftbefehl reagiert. «Solche Anschuldigungen sind einfach ungeheuerlich, sie fallen nicht einmal unter die Definition von «absurd», teilte Sluzki am Freitag kurz nach Bekanntwerden der Nachricht aus Den Haag mit.

Bis dahin hatten russische Nachrichtenagenturen noch nicht einmal über den Haftbefehl berichtet. Sluzki, der Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma ist, wagte sich als einer der ersten Politiker aus der Deckung.

Sluzki sagte, dass sich der Gerichtshof in Den Haag politisch instrumentalisieren lasse vom Westen und sich nun blossstelle durch diesen Schritt. Rechtlich habe das für Russland keine Bedeutung, weil Moskau das Gericht nicht anerkenne. Es gehe um eine «propagandistische Wirkung im Westen». Das Gericht solle vielmehr einen Haftbefehl gegen den «ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski und seine Bande» sowie gegen seine «westlichen Beschützer» ausstellen. «Sie sind die wahren Kriegsverbrecher.»

Unabhängige russische Medien kommentierten, dass durch den Haftbefehl Putins Reisemöglichkeiten eingeschränkt werden können. Viele Länder, darunter auch Verbündete Russlands, erkennen die Zuständigkeit des Weltstrafgerichts an und haben das entsprechende Statut ratifiziert. «Im Fall eines Besuchs Putins in einem dieser Länder, werden die örtlichen Behörden ihn verhaften müssen», sagte der Anwalt Sergei Golubok dem Portal MO.

Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte zum Haftbefehl: «Allein die Formulierung der Frage halten wir für unverschämt und inakzeptabel.» Russland erkenne die Rechtsprechung dieses Gerichts nicht an. «Entsprechend sind Entscheidungen dieser Art für Russland vom rechtlichen Standpunkt unbedeutend», sagte Peskow der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge.

Peskow wollte sich nach Angaben der russischen Agenturen nicht dazu äussern, ob eine drohende Verhaftung des Kremlchefs in Ländern, die das Gericht anerkennen, sich auf die Reisepläne Putins auswirken könnte. «Ich habe zu dem Thema nichts mehr zu sagen.»

Kiew: «eine historische Entscheidung»

Die Kiewer Führung hat die Entscheidung des Strafgerichtshofs begrüsst, einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu erlassen. Der Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, Michailo Podoljak, sagte am Freitag, die Entscheidung aus Den Haag sei «ein klares Signal an die (russischen) Eliten, was mit ihnen geschehen wird und warum es nicht ‹wie früher› sein wird». Selenskis Stabschef Andri Jermak sagte, der Schritt sei «erst der Anfang».

Auch der ukrainische Aussenminister Dmitro Kuleba begrüsste die Entscheidung. «Internationale Verbrecher werden für den Diebstahl von Kindern und andere internationale Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.»

Der ukrainische Generalstaatsanwalt Andri Kostin sagte in Online-Medien: «Die Welt hat ein Signal erhalten, dass das russische Regime kriminell ist und seine Führung und Handlanger zur Rechenschaft gezogen werden.» Dies sei «eine historische Entscheidung» für die Ukraine. «Die Führer der Welt werden jetzt dreimal überlegen, bevor sie ihm (Putin) die Hand geben oder sich mit ihm an den Verhandlungstisch setzen», teilte Kostin mit.

Auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski nannte den Entscheid «historisch». «Die Trennung der Kinder von ihren Familien, ihnen jede Möglichkeit des Kontakts mit ihren Angehörigen zu nehmen, sie auf russischem Gebiet zu verstecken, in entfernten Regionen zu verteilen – all das ist offensichtlich russische Staatspolitik, es sind staatliche Entscheidungen, es ist das staatliche Böse», betonte Selenski. Verantwortlich sei der erste Mann im Staat. Selenski dankte dem Team um Chefankläger Khan, für den Schritt, der es ermögliche, die Schuldigen zu bestrafen. Die Ukraine wiederum werde alles dafür tun, die verschleppten Mädchen und Jungen zurückzuholen, sagte Selenski.

Die Vereinten Nationen haben eine direkte Reaktion auf den Haftbefehl vermieden. Der Sprecher von UNO-Generalsekretär António Guterres, Stephane Dujarric, betonte am Freitag lediglich, dass Putin für den UNO-Chef wegen der Entscheidung keine Persona non grata sei: «Der Generalsekretär wird immer mit jedem sprechen, mit dem es nötig ist zu sprechen». Dujarric sagte weiter, dass der Internationale Strafgerichtshof und die Vereinten Nationen getrennte Organisationen seien.

UNO spricht von «Verbrechen gegen die Menschlichkeit»

Auch die UNO hat ihre Gangart gegenüber Russland massiv verschärft und spricht in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine erstmals von «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Eine unabhängige Expertenkommission der Vereinten Nationen besuchte 56 von Verbrechen betroffene ukrainische Städte und Dörfer, besichtigte zerstörte Häuser und Gräber, ehemalige illegale Gefängnisse und Folterorte, sammelte Dokumente, Videos und Satellitenaufnahmen und sprach mit knapp 600 Opfern.

Die Ermittler stellten zahlreiche russische Kriegsverbrechen fest: etwa Mord und massenhafter Tod durch Bombardierungen, Folter, Vergewaltigungen, illegale Haft und Verschleppungen von möglicherweise Hunderttausenden Kindern nach Russland. Die Bombardierung und die Belagerung der Hafenstadt Mariupol, bei der mutmasslich Tausende Menschen starben, seien womöglich ein «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» – die höchste Verbrechensstufe im internationalen Recht.

Auch der systematische Gebrauch von Folter gegen etliche Ukrainer sei ein mögliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Gleiche gelte für die von Putin offiziell am 10. Oktober 2022 befohlenen, bis heute weitergehenden Angriffe auf zivile Strom- und Kommunikationseinrichtungen, durch die Millionen Menschen im Winter ohne Strom, Heizung, Wasser, Lebensmittel, Gesundheitsversorgung oder Telefon blieben und eine unbekannte Zahl von Menschen starb. Die Ermittler sprachen bisher nur von möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil sie etwa zu Mariupol keinen Zugang hatten und weitere Untersuchungen für notwendig halten.

Dagegen stellten die Ermittler nur wenige Fälle ukrainischer Kriegsverbrechen fest: So sei in zwei Fällen dokumentiert, dass ukrainische Einheiten gefangene russische Soldaten gefoltert oder erschossen hätten. Ukrainische Einheiten hätten zudem mehrmals mit Raketen abgeschossene, sogenannte Schmetterlingsminen gegen russische Einheiten eingesetzt.

SDA/AFP/oli/has