In der Hölle des Ukraine-KriegsSanitäterin, die das Grauen in Mariupol aufzeichnete, wurde freigelassen
Yuliia Paievska dokumentierte den Alltag in der Stadt, die zum Symbol des ukrainischen Widerstands wurde. 250 Gigabyte Videomaterial wurden aus Mariupol geschmuggelt.
Die bekannte ukrainische Sanitäterin Yuliia Paievska bekam letztes Jahr eine Bodycam, um interessante Figuren in der Ukraine zu filmen. Es sollte eine Netflix-Dokumentation werden, produziert vom britischen Prinzen Harry. Doch der russische Angriff änderte alles. Mit einer Kamera, so gross wie ein Fünfliber, dokumentierte sie den Untergang von Mariupol. Die erschütternden Aufnahmen zeigen, wie sie und ihr Team ukrainischen und russischen Soldaten das Leben retteten. Und sie zeigen auch, wie Paievska zusammenbricht, nachdem Ärzte erfolglos versucht haben, einem Kind das Leben zu retten. Ebenso dokumentieren Paievskas Aufnahmen einen Luftangriff auf eine Entbindungsstation in Mariupol.
Zwei Wochen lang hat die 53-Jährige gefilmt und dabei über 250 Gigabyte an Material angesammelt. Sie übergab die Speicherkarte am 15. März einem internationalen Team aus Journalisten der amerikanischen Nachrichtenagentur AP. Sie waren die letzten internationalen Journalisten in der Stadt am Asowschen Meer. Die Medienschaffenden schmuggelten die Aufnahmen in einem Tampon aus Mariupol und passierten dabei 15 russische Kontrollpunkte, bis sie in ukrainisch kontrolliertem Gebiet waren. Ein Tag nach der Übergabe der Speicherkarte wurden Paievska und ihr Fahrer Serhi von russischen Soldaten festgenommen. In der Folge wurden sie mehr als drei Monate in Gefangenschaft gehalten, wie AP berichtet.
Nun verkündete der ukrainische Präsident am Freitag, dass Paievska wieder auf freiem Fuss ist. «Ich bin allen dankbar, die sich für dieses Ergebnis eingesetzt haben. Taira ist bereits zu Hause. Wir werden weiter daran arbeiten, alle Gefangenen zu befreien», sagte Wolodimir Selenski in seiner täglichen Fernsehansprache. Taira ist ihr Spitzname. In einer Videobotschaft bedankte sich Paievska bei Selenski, «dass er diesen Austausch organisiert hat». Und allen «auf der anderen Seite» sagt sie: «Es wird alles gut. Ihrer werdet alle nach Hause kommen so wie ich.»
«Wir behandeln alle gleich»
Auf der Schutzweste der Sanitäterin steht nicht Yuliia Paievska, sondern Taira. So benannte sie ihren Charakter im Onlinespiel «World of Warcraft». Den Spitznamen erhielt sie, als sie sich bei den Maidan-Protesten als freiwillige Ersthelferin engagierte.
In der Ukraine ist Paievska eine Berühmtheit. Die 53-Jährige ist Spitzensportlerin und hatte die freiwilligen Sanitäterinnen in der Ukraine ausgebildet. In der Donbass-Region gründete sie eine Gruppe von Sanitätern mit dem Namen Tairas Engel. Ausserdem arbeitete sie als Verbindungsperson zwischen Militär und Zivilisten in den Frontstädten. 2019 ging sie nach Mariupol, wo ihre medizinische Einheit stationiert wurde.
Ihre Freunde beschreiben sie als grosse und ausgelassene Persönlichkeit. Die Soldaten nennen sie liebevoll «Sonnenschein». In einer Aufnahme vom 26. Februar hört man, wie ein verletzter russischer Soldat verwundert sagt: «Du kümmerst dich um mich.» Sie antwortete: «Wir behandeln alle gleich.» Am selben Tag, kamen zwei Kinder, Bruder und Schwester, schwer verwundet ins Militärkrankenhaus in Mariupol. Sie wurden bei einer Schiesserei an einem Kontrollpunkt getroffen. Ihre Eltern waren schon tot. Paievska flehte den Jungen an: «Bleib bei mir, Kleiner.» Doch ihr Team schaffte es nicht, dem Jungen das Leben zu retten. Sie wendete sich vom leblosen Körper ab und weinte. «Ich hasse das», sagte sie und schloss ihm die Augen.
Ein am 10. März aufgenommener Clip zeigt zwei russische Soldaten, die von einem ukrainischen Kämpfer grob aus einem Krankenwagen geholt werden. Einer von ihnen sitzt im Rollstuhl. Der andere liegt mit einer Beinverletzung auf den Knien, die Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Sie tragen weisse Armbinden, und ihre Augen sind mit Mützen bedeckt.
Ein weiterer ukrainischer Soldat kommt hinzu und beleidigt die Verwundeten. Paievska greift ein und sagt, er solle sich beruhigen. So interpretiert die AP die Bilder. Eine Frau fragt die bekannte Sanitäterin, ob sie die Russen behandeln werde. «Zu uns werden sie nicht so freundlich sein», antwortete Paievska. «Aber ich könnte nicht anders. Sie sind Kriegsgefangene.»
Russland greift immer wieder Krankenhäuser an
Was es bedeutet, Kriegsgefangene zu sein, musste Paievska über einen Zeitraum von drei Monaten selber miterleben. Russland wirft der 52-Jährigen vor, ein Teil des rechtsextremen Asow-Regiments zu sein und damit eine Militärsanitäterin. Die AP hat jedoch keine Beweise gefunden, die eine Verbindung zu dem Freiwilligenbataillon zeigt. Laut der Nachrichtenagentur gehört das Militärkrankenhaus, in dem Paievska eine Evakuierung der Patienten leitete, nicht zum Bataillon. Auch ihre Aufnahmen zeigen, dass die Sanitäterin russische Soldaten und ukrainische Zivilisten versorgte.
Paievska ist eine von Hunderten prominenten Ukrainerinnen, die durch die Russen entführt oder festgenommen wurden. Darunter sind lokale Beamte, Journalistinnen, Aktivisten und Menschenrechtsvertreterinnen.
Die UNO dokumentierte 204 Fälle von «gewaltsamem Verschwindenlassen» von Zivilistinnen und Zivilisten durch russische Streitkräfte, das zeigt ein Bericht vom 10. Mai. Einige der Opfer sollen gefoltert worden sein, 5 seien tot aufgefunden worden.
Obwohl die Genfer Konvention sowohl militärisches als auch ziviles medizinisches Personal «unter allen Umständen» unter Schutz stellt, werden sie von russischen Angriffen getroffen. Die Weltgesundheitsorganisation verzeichnete Anfang April über 100 Angriffe auf das Gesundheitswesen.
In einem der letzten Videos, die Paievska drehte, sass sie neben ihrem Fahrer Serhi, der mit ihr verschwand. «Zwei Wochen Krieg. Belagertes Mariupol», sagte sie leise. Danach fluchte sie ziellos und der Bildschirm wird dunkel.
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