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Ukrainische Kinder als Kriegsbeute
Putins Kinderdiebin

Russland als neue Heimat: Maria Lwowa-Belowa (rechts), Russlands Kinderrechtsbeauftragte, und eine Gruppe von Kindern aus Mariupol bei ihrer Ankunft in Moskau im letzten Herbst.
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Maria Lwowa-Belowa inszeniert sich gerne als fürsorgliche Mutter und Familienmensch. Auf Fotos zeigt sie sich strahlend inmitten ihrer grossen Familie. Die 38-Jährige, die mit einem orthodoxen Priester verheiratet ist, hat fünf leibliche Kinder und fünf adoptierte. Zudem ist sie Vormund von einem Dutzend weiterer Kinder.

Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs macht sie Karriere als Retterin ukrainischer Kinder und Jugendlicher. Auf Bildern und Videos, die sie dauernd in den sozialen Medien verbreitet, umgibt sie sich mit Kindern aus dem überfallenen Nachbarland: Mal holt sie sie am Flughafen ab, mal schenkt sie ihnen Plüschtiere, die Aufnahmen zeigen meist zufriedene Kindergesichter.

Die Kommissarin für Kinderrechte des russischen Präsidenten Wladimir Putin spielt eine prominente Rolle in der Propaganda des Kreml: Dass ukrainische Kinder nach Russland gebracht werden, wird nicht geleugnet, sondern als humanitäre Tat umgedeutet und oftmals gefühlskitschig in Szene gesetzt.

Kinderrechtsbeauftragte adoptiert Teenager aus Mariupol

Das letzte Kind, das Maria Lwowa-Belowa adoptiert hat, ist ein 15-jähriger Junge aus Mariupol, der Stadt am Asowschen Meer, die von den Russen komplett zerstört wurde. Die Mutter des Teenagers, der Filip heisst, soll vor sechs Jahren an Krebs gestorben sein. Und sein Stiefvater sei bei den Kämpfen um Mariupol geflohen, erzählte Maria Lwowa-Belowa bei einem ihrer vielen Auftritte im russischen Staatsfernsehen. Als sie Filip das erste Mal bei einem Besuch in Mariupol gesehen habe, habe sie sofort realisiert, «dass ich ohne dieses Kind nicht leben kann». Zufrieden berichtete sie, dass Filip eine «fantastische Entwicklung» durchmache.

Die zunächst negative Haltung der ukrainischen Kinder weiche bald «der Liebe zu Russland», sagt Maria Lwowa-Belowa.

Jugendliche wie ihr neuester Adoptivsohn hätten zunächst keinerlei Bezug zur Kultur und Geschichte Russlands. Es sei vorgekommen, dass sie die ukrainische Hymne gesungen und über Putin geschimpft hätten, erzählte die Kinderrechtsbeauftragte des Kreml. Doch die Assimilation funktioniere. Die zunächst negative Haltung der jungen Ukrainerinnen und Ukrainer zu ihrer neuen Heimat weiche bald «der Liebe zu Russland».

Diese Kinder wollten nicht mehr zurück in die Ukraine, behauptete Maria Lwowa-Belowa. Ausserdem hätten diese Minderjährigen keine Familienangehörigen mehr, es gebe auch keine Erziehungsberechtigte oder Bezugspersonen. Man habe sie vor den Kämpfen in der Ukraine nach Russland in Sicherheit gebracht.

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Was die russische Führung als Massnahmen für das Kindeswohl darstellt, wird von der Regierung der Ukraine ganz anders gedeutet: Es ist der Versuch, die ukrainische Identität auszulöschen. Alles, was die Russen mit ukrainischen Kindern und Jugendlichen machen, ist «Anzeichen eines Genozids», sagte Daria Herasymtschuk, die Kinderrechtskommissarin der ukrainischen Regierung, in Gesprächen mit Medien.

Gemäss dem Informationsportal «Children of War», das die Regierung in Kiew betreibt, gelten über 16’200 Mädchen und Buben als deportiert. Sie befinden sich entweder in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine oder in Russland. Dabei handelt es sich um von den Behörden verifizierte Fälle.

Schätzungen gehen von über 100’000 Deportierten aus

Diese Kinder kommen aus Internaten, Waisenhäusern oder Pflegeeinrichtungen, und es sind auch Minderjährige, die im Laufe des Kriegs ihre Eltern verloren haben oder von russischen Soldaten von diesen getrennt wurden. Die tatsächliche Zahl der verschleppten Kinder und Jugendlichen dürfte deutlich höher liegen. Die ukrainische Kinderrechtskommissarin Daria Herasymtschuk schätzt, dass es bereits über 100’000 sind. Manche Hilfsorganisationen sprechen sogar von mehreren 100’000 deportierten Kindern.

Im Dezember 2022 berichtete die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass, dass über fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Russland geflohen seien, darunter sollen sich rund 720’000 Kinder befinden. Wie diese Menschen nach Russland gelangt sind, ob es sogenannte Evakuierungen waren und was danach mit ihnen passierte, ist nicht klar. Schon im vergangenen Mai waren über 190’000 Kinder aus dem Donbass in Russland angekommen, wie das russische Aussenministerium damals auf Twitter vermeldete.

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Die ukrainische Regierung hat schon im letzten Frühling die Weltöffentlichkeit auf die Verschleppung von Minderjährigen nach Russland aufmerksam gemacht. Sie erwartet mehr Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft, um den Aufenthaltsort von Deportierten ausfindig zu machen und sie nach Hause zu bringen. Gemäss Informationen der Website «Children of War» konnten bisher rund 300 Kinder und Jugendliche in die Ukraine zurückgeführt werden. Dies gelingt offenbar meistens auf Initiative von Familienangehörigen, die von Helfernetzwerken unterstützt werden.

Eine Grossmutter holt ihren Enkel im Donbass zurück

Mediale Aufmerksamkeit erlangte die Rückführung eines elfjährigen Knaben namens Sascha, der mit seiner Mutter in Mariupol gelebt hatte. Mutter und Sohn landeten in einem sogenannten Filtrationslager der Russen, wo sie voneinander getrennt wurden. Weil Sascha am Rande der Kämpfe eine Augenverletzung erlitten hatte, wurde er in ein Spital in der von den Russen besetzten Stadt Donezk in der Ostukraine gebracht. Saschas Glück war, dass er die Telefonnummer seiner Grossmutter, die im Norden der Ukraine lebt, bei sich hatte.

Nach dem Anruf ihres Enkels setzte die Seniorin alles in Bewegung, um Sascha zurückzuholen. Sie beschaffte sich Vormundschaftspapiere und andere Dokumente, reiste über Polen, Litauen und Lettland nach Russland ein und fuhr dann weiter südwärts in den Donbass. Nach der abenteuerlichen Rettungstat erzählte Saschas Grossmutter Medienberichten zufolge, dass sie von Sicherheitsfunktionären lange befragt worden sei. «Ich musste ein bisschen lügen. Das war der einzige Weg, um rauszukommen.» Sascha, dem die Adoption durch eine Familie in Russland drohte, lebt inzwischen bei seiner Grossmutter. Von seiner Mutter fehlt aber jede Spur.

Russifizierung ukrainischer Kinder: Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa bei ihrem Treffen im vergangenen Monat.

Nicht zuletzt die Geschichten von zurückgeholten Buben und Mädchen erlauben Rückschlüsse auf den Umgang der Russen mit ukrainischen Minderjährigen. Sie bestätigen die Erkenntnisse einer Forschergruppe der US-Universität Yale: Im vergangenen Monat veröffentlichte sie einen Bericht über Russlands «systematisches Programm zur Umerziehung und Adoption ukrainischer Kinder». Hinter den Verschleppungen steht offensichtlich ein klares Konzept, logistische Planung und eine eindeutige Befehlskette. Dabei gibt es ein Netzwerk von mindestens 40 sogenannter Sorgerechtszentren, das sich über ganz Russland erstreckt.

Die Studie, die von mindestens 6000 verschleppten Minderjährigen aus der Ukraine ausgeht, kommt zu einem beunruhigenden Fazit: «In manchen Fällen gibt es Adoptionen, in anderen Fällen Sommercamp-Programme, bei denen die Kinder nach Hause zurückkehren sollten und es nie getan haben. Und in manchen Fällen handelt es sich um Umerziehungslager.» Kinder sollen alles Ukrainische vergessen und eine prorussische, patriotische Erziehung erhalten. Die Studie nennt auch die zentrale Person dieser Machenschaften: Maria Lwowa-Belowa.

Auf der Sanktionsliste von USA, EU und der Schweiz

Die frühere Gitarrenlehrerin aus Pensa, einer Stadt 650 Kilometer südöstlich von Moskau, ist sehr patriotisch und sehr fromm. Sie betrieb auch soziale und pädagogische Einrichtungen. In kurzer Zeit machte die Putin-treue Frau steile Karriere in der Regierungspartei «Einiges Russland». Sie sass als Senatorin im Föderationsrat Russlands, bevor sie im Oktober 2021 zur Kinderrechtskommissarin des Präsidenten ernannt wurde.

Maria Lwowa-Belowa figuriert seit dem vergangenen Herbst auf den Sanktionslisten der USA, von Kanada, der EU, Grossbritannien und der Schweiz. Verantwortlich wird sie gemacht für die systematische Verschleppung ukrainischer Mädchen und Buben durch die russischen Streitkräfte, die russisch-patriotische Erziehung dieser Kinder, die Zwangsadoptionen durch russische Familien sowie Gesetzesänderungen, um die Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft an ukrainische Kinder zu beschleunigen. Nicht zufällig erscheint Maria Lwowa-Belowa auf Bildern, die zeigen, wie Kinder aus der Ukraine den Pass der Russischen Föderation erhalten.

Putin fragt seine Kinderrechtsbeauftragte, ob sie ein Kind aus Mariupol adoptiert habe. «Ja, Wladimir Wladimirowitsch, dank Ihnen», antwortet sie artig.

Aufschlussreich für ihre Tätigkeit ist auch ein Video über ein kürzliches Treffen mit dem russischen Präsidenten. Im Gespräch mit Wladimir Putin erzählt sie vom angeblich wachsenden Interesse russischer Bürger an Adoptionen von Kindern aus den besetzten ukrainischen Gebieten in Donezk und Luhansk, Cherson und Saporischschja. Im Weiteren spricht sie über die Zusammenarbeit mit dem tschetschenischen Despoten Ramsan Kadyrow, mit dem sie ein militärisch-patriotisches Lager für schwierige Teenager aufgebaut hat.

Im Laufe des Gesprächs fragt Putin seine Kinderrechtskommissarin, ob sie ein Kind aus Mariupol adoptiert habe. «Ja, Wladimir Wladimirowitsch, dank Ihnen», antwortet sie artig und lächelnd. «Jetzt weiss ich, was es heisst, Mutter eines Kindes aus dem Donbass zu sein», sagt Maria Lwowa-Belowa. «Das ist eine schwierige Aufgabe, aber wir lieben uns, das ist ganz sicher.» Das sei auch das Wichtigste, meint Putin. Der russische Präsident und seine Kinderrechtskommissarin: Sie wirken ziemlich zufrieden mit sich selber.