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Best of Mamablog: Mentale Gesundheit
Ich habe keine Probleme – und bin trotzdem deprimiert

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BotTalk

Unsere Mamabloggerinnen und Papablogger haben Sommerferien. Daher publizieren wir diese Woche Beiträge, die besonders viel zu reden gaben. Dieser anonyme Beitrag erschien erstmals am 9. Dezember 2021.

Unsere Autorin – sie bleibt anonym – macht die Erfahrung, «dass die Erwartungshaltungen anderer Menschen absolut rein gar nichts mit meinem Bild von mir selber zu tun haben».

Ich habe keine Probleme. Ich sitze in meinem geheizten Eigenheim in der reichen Schweiz, mit einem vollen Kühlschrank in der Küche. Meine Kinder sind in Ausbildung, mein Mann und ich haben mehr oder weniger geregelte Einkommen und lieben uns. Und doch bin ich … deprimiert? Traurig? Down? Ich finde nicht das richtige Wort dafür.

Adam Grant nannte es in seinem letztjährigen TED-Talk «Languishing». Wörtlich übersetzt «schmachtend», aber nicht im Sinne von Teenager-Liebe, sondern schmachtend nach Sinn im Leben. Nach Freude. Nach weniger Weltuntergangsstimmung.

Warum fühle ich mich so? Zu viel Arbeit? Seit der Pandemie zu wenig Arbeit? (Ich gehöre zu den direkt betroffenen Unternehmerinnen.) Ist es die Pandemie selber? Habe ich am Ende Angst, angesteckt zu werden, trotz meiner Impfung? Ist es die viel genannte «Spaltung der Gesellschaft», die mich morgens kaum aus dem Bett kommen lässt und auch tagsüber die Lust auf alles nimmt? Ich weiss es wirklich nicht.

Ich bin unmotiviert, habe Lust auf nichts

Ist es am Ende dieses unsägliche Wort: Burnout? Ich habe schon viel über Burnouts gelesen, wir hatten in der Familie diese Diagnose bereits. Vor ein paar Jahren diagnostizierte meine Ärztin, ich müsse aufpassen, ich schramme an einem Burnout vorbei. Doch damals hatte ich eben Gründe, «deprimiert» und überarbeitet zu sein. Es gab tatsächliche Probleme. Aber heute? Ich habe keine Probleme. Keine wirklichen.

Wenn ich Zeitung lese, sehe ich Menschen, die echte Probleme haben. Kranke Menschen in den Intensivstationen. Obdachlose Menschen an den Grenzen, in den Städten Europas. Kinder, die keine Eltern mehr haben. Eltern, die ihre Kinder verloren haben. Opfer von Gewalt, Opfer unseres kapitalistischen Systems, Opfer des Klimawandels.

Aber ich? Ich bin (körperlich) gesund, habe ein sehr schönes Dach über dem Kopf, meinen Eltern und meinen Kindern geht es gut, ich habe nie Gewalt erlebt, meine Firma hat trotz Pandemie überlebt und der Klimawandel macht mir zwar Sorgen, mein Alltag ist davon aber nicht sichtbar eingeschränkt. Ich habe keine Probleme.

Nichts macht Freude, ausser meiner kleinen Familie. Das sind die einzigen Menschen, die ich zurzeit ertrage.

Und doch fühle ich mich schlecht. Die ganze Zeit. Ich bin unmotiviert, habe Lust auf nichts. Sage meine Termine dauernd ab, vergesse sogar welche, die ich mir nie eingetragen habe. Menschen treffen gleicht einem Spiessrutenlauf, denn eigentlich wäre ich lieber zu Hause. Auch die Arbeit macht keinen Spass, was mir als Gefühl gänzlich unbekannt ist. Ich hake ab: Meetings, Telefonate, Treffen mit Freunden und Familie. Die grosse Taskliste meines Lebens, die es möglichst unbeschadet abzuarbeiten gilt.

Nichts macht Freude, ausser meiner kleinen Familie. Das sind die einzigen Menschen, die ich zurzeit ertrage. Denn da muss ich nichts. Ich muss nicht reden, ich muss nicht zuhören, ich muss nicht vermeintlich gut gelaunt sein, weil ich doch sonst immer so lustig bin. Ich kann einfach sein und muss niemandem etwas vorspielen. (Wobei mich da das schlechte Gewissen plagt, weil sie mich in diesem Zustand ertragen müssen.)

Wieso sind Psychopharmaka beschämend?

Das ist überhaupt das Schwierigste. Dieses Bild, das andere von mir haben. Powerfrau, (unternehmens)lustig, Hansdämpfin und immer gut drauf. Ich mache die Erfahrung, dass die Erwartungshaltungen anderer Menschen absolut rein gar nichts mit meinem Bild von mir selber zu tun haben. Denn ich weiss von mir, dass ich mitunter eine sehr dunkle, alles andere als lustige Seite habe, der ich auch gerne (meist heimlich) freien Lauf lasse. Doch wer weiss das sonst? Oder anders gefragt: Wen interessierts?

Als ich vor einem Jahr Antidepressiva verschrieben erhalten habe, wollte ich offen damit umgehen. Denn die Psyche kann genauso gut erkranken, wie der Körper, und ich sah eigentlich nicht ein, wieso man sich dafür schämen sollte. Wieso ich mich dafür schämen soll. Wenn jemand hohen Blutdruck hat, nimmt er/sie Medikamente. Hat jemand Krebs, gibt es eine Chemotherapie. Ohne das eine gegen das andere ausspielen zu wollen: Wieso sind Psychopharmaka beschämender als andere Heilmittel?

Ich habe immer noch keine Antwort, habe damals aber gemerkt, dass man lieber nicht darüber spricht. Wer selber noch keine Erfahrung damit gemacht hat, weicht dem Thema schnell aus. Die mentale Gesundheit erlebt immer noch ein Stigma, das sogar im engsten Freundeskreis bestehen bleibt.Ich mache niemandem einen Vorwurf. Auch ich dachte früher so was wie «ui, das muss ja übel sein, wenn sie Antidepressiva nimmt». Vor allem, wenn diese Person eben vordergründig keine Probleme hatte. So wie ich. Denn ich habe keine Probleme. Und dennoch halfen mir diese Medikamente, diese «Nicht-Probleme» zu bewältigen. Eine Zeit lang.

Ist das diese oft genannte Wohlstandsverwahrlosung? Geht es uns zu gut?

Und jetzt? Wofür habe ich das alles aufgeschrieben? Weil ich weiss, dass es da draussen Menschen gibt, die sich auch sagen: «Wieso fühle ich mich so schlecht, ich habe doch keine Probleme!» Ist das diese oft genannte Wohlstandsverwahrlosung? Geht es uns zu gut? Ich weiss es nicht. Ich hoffe zwar weiterhin, nie «echte» Probleme zu haben. Aber auch, dass dieses Gefühl irgendwann wieder weggeht.

Ich habe wieder mit den Medikamenten angefangen, einfach, weil sie mir das Gefühl geben, wieder ich selber zu sein. Manchmal habe ich Angst, sie das ganze Leben schlucken zu müssen. Denn was macht das aus mir? Jemanden mit Problemen, oder nicht?