Mamablog: Schluss mit ErstarrungEin Plädoyer für mehr Mitgefühl
Nach zwei Jahren Pandemie und persönlichen Sicherheitsbedürfnissen ist es an der Zeit, wieder menschlicher zu werden, findet unsere Autorin. Auch unseren Kindern zuliebe.
Am Tag, als die Medien vom Schweizer Fotografen berichteten, der in Paris auf offener Strasse zusammenbrach und nach neun Stunden erfror, weil keiner der Passanten sich ihm annahm, erzählte mir eine Freundin, sie sei eben die Zürcher Bahnhofstrasse runtergelaufen, wo ein Abfalleimer lichterloh brannte. «Es brennt, hat jemand Wasser?», habe sie gerufen. Doch keiner der Vorbeieilenden habe reagiert. Stattdessen sei in unzähligen Gesichtern zu lesen gewesen: «Ich wars nicht. Geht mich nichts an», bevor sie eilig zu Boden blickten.
Zwei Geschichten, die deutlich machen, dass nicht nur unser ökologisches, sondern zunehmend auch unser menschliches Klima aus dem Gleichgewicht gerät. Dass nicht wenige Menschen in einer Art Überlebensmodus verharren, welcher nicht über die eigene Befindlichkeit zu greifen vermag. Ein Gradmesser dafür sind auch jene Psychologen und Ärztinnen, die berichten, dass Depression und Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen im letzten Jahr um satte 30 Prozent zugenommen haben. Sowie Institutionen, die von endlosen Wartelisten und fehlenden Therapieplätzen berichten. Ein Missstand, der behoben werden muss. Doch wenn wir nicht nur Pflaster verteilen wollen, müssen wir uns auch dringend fragen, was in unserer reichen, westlichen Welt denn nicht stimmt, wenn es so vielen jungen Menschen nicht gut geht?
Wir und die Bedürfnispyramide
Auf diese Frage kommt oft die Antwort: «Luxusprobleme! Wir sind doch so privilegiert!» Ich weiss, was gemeint ist. Es gibt tatsächlich allen Grund zur Dankbarkeit in dieser materiell und strukturell so abgesicherten Welt. Doch verpflichtet nicht genau die Sicherung dieser Bedürfnisse dazu, uns höher angesiedelten, aber nicht minder wichtigen Themen zuzuwenden? Ganz nach der Logik der Maslowschen Bedürfnispyramide, die besagt, dass der Fokus auf soziale Bedürfnisse dann ansteht, wenn die materiellen und jene nach Sicherheit gedeckt sind?
Viele Kinder kennen den afrikanischen Dschungel aus Games deutlich besser als den Wald vor ihrer Haustür.
Materielle Bedürfnisse stehen schon lange in unserem Zentrum. Und aufgrund der Pandemie steckten wir zwei lange Jahre im Wunsch nach Sicherheit fest. Doch nun ist es an der Zeit, eine Stufe weiterzugehen. Uns wieder den Menschen zuzuwenden, statt in ihnen eine Bedrohung zu sehen. Über den Tellerrand hinauszuschauen und einander die Hand zu reichen.
Junge Menschen brauchen das pralle Leben
Doch nicht nur die Pandemie hat eine Art Glasglocke über unser Leben gelegt. Unser leistungsbezogener und digitalisierter Lebensstil entfremdet uns dem Leben schon länger. Denn wir leben in einer Welt, in der man den Nachbarn über Satelliten im Weltall fragt, ob er Zucker hat. Wir sind umgeben von einem Ozean, der mit Plastik zugeschüttet ist, während es vom Himmel solchen schneit. Männliche Küken werden vergast, weil sie keinen Profit bringen. Im Tram fahren wir mit Menschen, deren Augen im Handy versunken und die Ohren mit Kopfhörern verstopft sind, sodass man einander kaum mehr wahrnimmt. Wir benutzen Schrittzähler, statt auf unser eigenes Körpergefühl zu hören. Viele Kinder kennen den afrikanischen Dschungel aus Games deutlich besser als den Wald vor ihrer Haustür. Und die ständige Forderung nach Leistung bringt nicht wenige von ihnen, genauso wie Erwachsene, immer wieder an den Rand der Erschöpfung.
All das finden wir normal und nehmen kaum wahr, wie uns dieser Wahnsinn zunehmend von der sogenannten Normalität, dem Leben selbst, der Natur und den Mitmenschen entfremdet. Und genau das widerspricht der Erfahrung, die junge Menschen so absolut brauchen: dem echten und prallen Leben angebunden zu sein.
Mit Kindern über die Not der anderen reden
«Privilegiert» bedeutet nach Duden übrigens folgendes: mit Vorrechten bestückt zu sein. Aber wir haben keine Vorrechte, sondern einfach Grund zur Dankbarkeit. «Privilegiert» ist aber nicht gleichbedeutend mit Dankbarkeit, sondern eher ein latent schlechtes Gewissen, das einen geduckt murmeln lässt: «Ist ja gut, ich bin ja schon ruhig. Ich bin ja schliesslich so privilegiert.»
Aber wir sollten weder ruhig sein, noch ein schlechtes Gewissen wegen unseres Wohlstands haben. Und wirkliche Dankbarkeit verpflichtet uns letztlich dazu, Verantwortung für jene Bereiche zu übernehmen, die nach Entwicklung schreien. Für Werte einzustehen. Mit unseren Kindern über Mitgefühl, ihre Not und die der anderen zu reden. Damit ihre Generation weiterentwickeln kann, was unsere Vorfahren und wir geschaffen haben. Statt im Gefängnis des schlechten Gewissens zu verharren und erstarren. Denn Erstarrung ist genau das Gegenteil von dem, wonach Jungsein so deutlich schreit.
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