Interview zu Wahl«Frankreichs Perspektiven sind gar nicht so schlecht»
Die nächsten zwölf Monate würden chaotisch, sagt Politologe Joseph de Weck. Doch danach könnte eine wichtige politische Neuerung kommen – und eine bessere Republik.
Nach den Parlamentswahlen in Frankreich herrscht Erleichterung: Die extreme Rechte wurde in die Schranken gewiesen, ein linkes Bündnis erhielt überraschend viele Stimmen, und die Verluste für die regierende Partei von Präsident Emmanuel Macron fielen weniger hoch aus als befürchtet.
Gleichzeitig ist alles unklar. Im neuen Parlament hat niemand die Mehrheit. Und so sprachen Politiker schon am Wahlabend in Talkshows davon, dass die Fünfte Republik jetzt am Ende sei. Frankreich müsse sich neu erfinden.
Doch was heisst das genau? Wo steht Frankreich, wirtschaftlich und politisch? Und wo bewegt es sich in den nächsten Monaten hin? Der Schweizer Politologe und Macron-Biograf Joseph de Weck hat zu diesen Fragen ziemlich konkrete Antworten.
Herr de Weck, bricht in Frankreich eine neue Ära an?
Ja, ich glaube schon. Bereits vor zwei Jahren kam es zu einem ersten Umbruch, als die Franzosen erstmals ein Parlament ohne klare Mehrheit gewählt haben – und das, obwohl das Majorzsystem genau darauf ausgerichtet ist. Jetzt hat sich diese Tendenz nochmals gefestigt.
Was ist der tiefere Grund dafür?
Die Gesellschaft ist immer stärker fragmentiert. Die Parteienlandschaft spaltet sich in drei Blöcke, die sich ungefähr die Waage halten: Ein Drittel wählt links, ein Drittel die Mitte, ein Drittel rechts. Auch in Zukunft wird es für einen dieser drei Blöcke schwierig sein, eine Mehrheit in der Assemblée zu haben.
Wie geht es politisch jetzt weiter?
Relativ rasch dürfte jetzt eine Wahlrechtsreform aufs Tapet kommen: die Einführung des Proporzsystems. Die Linke fordert diese Reform in ihrem Wahlprogramm, im zentristischen Lager geniesst sie grosse Sympathien, und auch Präsident Emmanuel Macron hat bereits mit dem Gedanken gespielt. Umsetzbar wäre die Reform relativ rasch: Es braucht dafür keine Verfassungsänderung – ein einfacher Parlamentsbeschluss genügt.
Würde sich ein Wechsel positiv auswirken?
Praktisch in allen europäischen Ländern wird das Parlament heute nach dem Proporzsystem gewählt, oder zumindest in einer Mischform. Mit unterschiedlichen Ergebnissen: In Deutschland schafft man es, mehr oder weniger stabile Regierungen zu bilden. In Italien dagegen herrschten lange instabile Regierungen mit immer wieder wechselnden Premierministern.
Welches Szenario ist wahrscheinlicher?
Die französische Politik dürfte sich in den nächsten ein bis zwei Jahren italienisieren, da sich die verschiedenen Akteure erst auf das neue parlamentarische Spiel einstellen müssten. Ich rechne mit Neuwahlen in einem Jahr.
Was passiert in der Zeit dazwischen?
Zuerst wird wohl die Linke versuchen, eine Minderheitsregierung zu stellen. Schon das wird schwierig, weil die linken Parteien unter sich sehr zerstritten sind. Sollte diese Regierung zustande kommen, kann es aber gut sein, dass sie im Parlament bald wieder abgesetzt wird. Als Nächstes wird es wahrscheinlich einen Versuch geben, eine grosse Mitte-links-Koalition zu bilden. Das dürfte aber auch nicht lange gut gehen. Als Nächstes käme eine technokratische Übergangsregierung ins Spiel. Sie bliebe bis Sommer 2025 im Amt, wenn womöglich im Proporzsystem ein neues Parlament gewählt wird. Das wäre dann der erste Moment, in dem man seriös über Koalitionen reden kann.
Kann Frankreich unter diesen Umständen den Haushalt konsolidieren, wie es die EU-Regeln einfordern?
Vermutlich wird man sich für 2025 nicht auf ein Budget einigen können. In diesem Fall wird vermutlich einfach das Budget von 2024 überschrieben. Die Europäische Union wird das akzeptieren müssen – auch wenn damit kein Plan in Sicht ist, wie das derzeitige Defizit im Umfang von über 5 Prozent des BIP mittelfristig reduziert werden soll.
Wie konnte es eigentlich passieren, dass die Staatsfinanzen unter einem Zentrumspräsidenten wie Macron derart aus dem Ruder laufen?
Zu Beginn seiner Präsidentschaft gelang es Macron, das Defizit unter die 3-Prozent-Schwelle zu drücken, die im Maastricht-Vertrag festgelegt ist. Dann kam die Pandemie, und Macron reagierte darauf mit hohen Ausgaben. Seit den Wahlen von 2022 hat Macron nicht mehr die Macht, um die Ausgaben zurückzufahren. Die Rentenreform ist das einzige nennenswerte Projekt der letzten Jahre, das hilft, die Finanzen zu konsolidieren.
Ebendiese Reform will die Linke nun rückgängig machen: Nachdem das Rentenalter von 62 auf 64 stieg, soll es auf 60 sinken. Schafft sie das?
Kaum. Dafür fehlen ihr die parlamentarischen Mehrheiten. Dem Rassemblement National passt Macrons Rentenreform zwar auch nicht. Aber dass diese beiden Lager zusammenarbeiten, ist schlicht undenkbar.
«Die nächsten zwölf Monate werden chaotisch. Aber am Ende steht womöglich eine bessere Republik.»
Ein grosses Thema ist die Kaufkraft. Geht es den Franzosen wirklich so schlecht?
Eigentlich ist es ein Zeichen des wirtschaftlichen Erfolgs des Landes, dass die Franzosen jetzt über die Kaufkraft reden und nicht mehr über Arbeitslosigkeit, so wie in den dreissig Jahren zuvor. Aber die Pandemie und die darauffolgende Inflation haben der Bevölkerung viel abverlangt. Macron hat zwar viel Geld ausgegeben, um die Inflation abzufedern. Trotzdem sticht jetzt sein Hauptargument, wonach es den Leuten unter ihm wirtschaftlich besser gehe, nicht mehr.
Wie schätzen Sie seine wirtschaftliche Gesamtbilanz ein?
Alles in allem positiv. Macron hat es geschafft, Frankreich aus der jahrzehntelangen Stagnation zu befreien – ohne eine Politik auf Kosten der ärmeren Bevölkerung durchzuziehen, wie es etwa in Deutschland mit der Agenda 2010 geschehen ist. Frankreich zieht auch wieder viele Investitionen aus dem Ausland an. Der grosse Minuspunkt ist das hohe Defizit.
Und wie lautet seine politische Bilanz?
Die Perspektiven von Frankreich sind gar nicht so schlecht. Das Land ist nach diesen Wahlen klar europafreundlich positioniert und fest in der Nato verankert. Natürlich ist Macron in der Innenpolitik eine lahme Ente: Weder die Linken noch die Rechten sehen ihn als Vermittler, und auch in der eigenen Partei schwindet sein Einfluss. Dafür werden jetzt die Karten neu gemischt. Die nächsten zwölf Monate werden chaotisch. Aber am Ende steht womöglich eine parlamentarischere, weniger zentralistische Republik, die die Franzosen in ihrer Gesamtheit besser abbilden und das Land etwas befrieden kann.
Und die extreme Rechte: Legt sie weiter zu?
Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie konstruktiv die anderen Parteien in der nächsten Zeit zusammenarbeiten. Dass Marine Le Pen an den nächsten Präsidentschaftswahlen an die Macht kommt, ist aber so gut wie ausgeschlossen. Die Franzosen haben am Sonntag mit grosser Deutlichkeit klargemacht, dass sie diese Entwicklung nicht wollen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.