Gemüse, Fleisch, FertiggerichteSo viel Food-Waste verursacht der Detailhandel
Sind die Erwartungen der Kundschaft schuld, dass die Grossverteiler so viel Essbares wegwerfen müssen? Ein Augenschein in einem Coop-Megastore nach Ladenschluss.
Für Milchshake wären sie perfekt. Doch Bananen mit vielen schwarzen Punkten will niemand kaufen. Sie werden aussortiert. «Das ist schade, aber erklärbar», sagt Erika Windlin. Sie ist Leiterin der Coop-Filiale Tägipark in Wettingen AG. Nahrungsmittel wegzuwerfen, falle ihr nicht leicht.
Doch die Kundinnen und Kunden würden sich, wenn sie die Wahl hätten, immer für das schönere und länger haltbare Produkt entscheiden, sagt sie und legt eine schrumpelige Aubergine in den Harass, wo bereits Tomaten und Peperoni mit Schönheitsfehlern liegen.
Sind die hohen Ansprüche der Kundschaft schuld am Food-Waste im Detailhandel? Oder könnten nicht einfach die Detailhändler darauf verzichten, am Nachmittag Brot neu aufzubacken?
Im Tägipark, einem Megastore mit rund 4100 Quadratmetern Fläche, ist es kurz vor Ladenschluss. 19 Uhr. In einer Stunde macht der Laden zu. Die Mitarbeitenden patrouillieren durch die Rayons – ausgerüstet mit orangen Klebern. Sandwiches sind bereits mit einem 50-Prozent-Ettikett versehen, Birchermüesli und abgepackte Salate ebenfalls. Nun erhalten mehrere Packungen Blätterteig einen Rabatt-Kleber.
Die Angestellten rücken Produkte zurecht. Noch eine Stunde Zeit, dann werden sie wegwerfen, was laut dem Haltbarkeitsdatum bis heute hätte verbraucht werden sollen. Mit den orangen Etiketten kämpfen sie gegen die Konsumentenerwartungen an, die die Grossverteiler in der Vergangenheit geweckt haben. Sie haben das Sortiment ständig erweitert. Die Kundschaft ist dran gewöhnt, rund um die Uhr Frisch-Fertiggerichte und frisches Brot kaufen zu können.
Filialleiterin Windlin, Chefin von 100 Angestellten, nimmt eine Zuger Kirschtorte aus dem Kühlregal. Mehrere dieser Torten sind um 25 Prozent vergünstigt, obwohl sie erst in fünf Tagen ablaufen. Die frische Erdbeertorte hingegen wird erst am Tag vor dem Ablaufdatum heruntergeschrieben werden. «Meine Mitarbeitenden können nach ihrem eigenen Ermessen entscheiden, wann sie welche Produkte aufgrund des Verfalldatums vergünstigt anbieten wollen.»
Ein Abfallberg mit dem Gewicht der Titanic
Food-Waste ist in der Schweiz ein grosses Problem. Gemäss einer Studie der ETH Zürich werden in der Schweiz pro Jahr rund 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Dies entspricht etwa 330 kg pro Person und Jahr. Eingerechnet sind Lebensmittelabfälle, die bereits in der Landwirtschaft entstehen, durch die Verarbeitung und in den Haushalten. Auf den Detailhandel entfallen 8 Prozent oder 279’000 Tonnen.
Der Grossteil davon entfällt auf die beiden Grossen: Migros muss jährlich 1 Prozent der Lebensmittel wegwerfen, bei Coop sind es 2 Prozent. Bis 2026 will Coop den Anteil auf 0,5 Prozent hinunterbringen.
Beide betonen, dass aus diesen Abfällen Futtermittel wird oder sie in Vergärungsanlagen zu Biogas und Flüssigdünger verarbeitet werden. 1 oder 2 Prozent klingt nach wenig, ist aber eine beträchtliche Menge: Internen Schätzungen zufolge sind es bei Coop jährlich mindestens 50’000 Tonnen – also ungefähr das Gewicht der Titanic.
Ein Grund ist, dass sich die Kundschaft daran gewöhnt hat, bis kurz vor Ladenschluss Frisches wie beispielsweise Brot einzukaufen und dabei sogar von verschiedenen Sorten auswählen zu können. Die Detailhändler sehen sich gezwungen, mitzuziehen, denn sonst würden die Kunden bei der Konkurrenz einkaufen gehen – nicht nur für das frisch aufgebackene Tessinerbrot, sondern auch gleich für andere Lebensmittel.
Es gehe heute darum, «ein möglichst anständiges Ladenbild aufrechtzuerhalten», sagt Windlin, die bereits 22 Jahre bei Coop arbeitet und in ihrer Filiale heute insgesamt 30’000 Artikel anbietet. Sie erinnert sich an ihre Anfangszeit. «Da mussten wir den Kunden möglichst alles anbieten: ein volles Angebot an allen Produkten bis zum Ladenschluss.» Inzwischen gelte diese Maxime nicht mehr.
Mitunter auch aus Umweltüberlegungen: Food-Waste beeinflusst das Klima. Fachleuten zufolge würde sich in der Schweiz rund eine halbe Tonne CO₂-Äquivalent pro Person einsparen lassen, wenn Essbares nicht weggeworfen würde. Das entspricht ungefähr den Emissionen eines Fluges von der Schweiz in die türkische Hauptstadt Ankara.
Besonders schlecht ist es, wenn energieintensive Produkte wie Fleisch, Kaffee- und Kakaobohnen, Butter, Eier, mit dem Flugzeug importierte Produkte sowie Öle und Fette, Fisch und Käse weggeworfen werden. Auch die Verluste von Früchten, Gemüse und Kartoffeln sowie Broten und Backwaren sind relevant. Zwar ist ihre Umweltwirkung geringer, doch sie fallen in grossen Mengen an.
Wie andere Detailhändler übergibt Coop Lebensmittel, die qualitativ einwandfrei sind, jedoch nicht mehr verkauft werden können, an die Stiftung Schweizer Tafel und die Non-Profit-Organisation Tischlein deck dich. Letztes Jahr waren es 4500 Tonnen.
Im Tägipark kommt jeden Tag eine der beiden Organisationen vorbei, um Lebensmittel abzuholen. So häufig ist dies bei weniger zentral gelegenen Filialen nicht möglich, dorthin schaffen es Tischlein deck dich oder Schweizer Tafel nur einmal in der Woche.
Durch diese Lebensmittel-Spenden konnte Tischlein deck dich stark wachsen: Im laufenden Jahr erhielt die Organisation von Coop und Migros bisher über 3600 Tonnen Lebensmittel – vor vier Jahren waren es noch nicht einmal halb so viel. Dieses Jahr konnte die Organisation acht zusätzliche Abgabestellen eröffnen und im November ein neues Logistik-Lager in Staufen AG.
Die Detailhändler würden bereits viel tun, doch es gebe weiteres Potenzial, sagt Alex Stähli, Geschäftsführer von Tischlein deck dich. «Es sollten vermehrt auch abgepackte Frischprodukte durch die Möglichkeit des Einfrierens gerettet werden.»
KI berechnet, wie viel die Kundschaft kaufen wird
Coop gibt an, Fleisch frühzeitig einzufrieren und dann in seinen Restaurants zu verwenden. Aus Rüebli und Lauchstangen mit dunkeln Stellen etwa wird Gemüsesuppe gekocht. Weitere Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, aber trotzdem einwandfrei sind, werden zu Beilagen, Salaten und Desserts – zum Beispiel zu Blätterteigschnitten mit Früchten.
Dazu kommen die rund 40’000 Pakete, die Coop laut eigenen Angaben in der ganzen Schweiz monatlich über die Lebensmittel-Abhol-App Too good to go verteilt. Auch der Tägipark macht mit. Doch heute holt niemand ein Too-good-to-go-Paket ab. «Normalerweise sind es im Schnitt zwei oder drei», sagt Windlin.
Birchermüesli oder Joghurt mit Granola und Himbeeren? Vor der Kühltheke mit Frisch-Convenience-Produkten prüft eine Kundin das Angebot. Sie habe jeweils erst spät Feierabend. «Auf dem Heimweg kaufe ich ein, dabei greife ich oft zu Produkten mit dem orangen Etikett.» Schliesslich entscheidet sie sich f¨ür das Birchermüesli. «Das esse ich morgen zum Frühstück.»
Filialleiterin Windlin steht unterdessen beim Fleischkühlschrank. Im Pouletflügeli-Regal hängt ganz vorne ein Paket, das möglichst bald wegmuss und deshalb einen 25-Prozent-Kleber hat. Am nächsten Tag endet das «Verbrauchen bis»-Datum – anschliessend darf Coop das Produkt nicht mehr verkaufen.
Um die Bestellungen zu kalkulieren, ist im Tägipark künstliche Intelligenz (KI) im Einsatz etwa bei Brot, Früchten und Gemüse und bei Fleisch – also auch bei den Pouletflügeli. «Das System kennt den Lagerbestand und berechnet aufgrund unterschiedlicher Parameter, wie viel wir bis zur nächsten Lieferung verkaufen werden», erklärt Windlin. Ausschlaggebend seien etwa die Abverkaufsdaten der letzten Wochen, am gleichen Tag in den Vorjahren, Wetterdaten, Feiertage.
Um die kurzfristige Sortimentsbestückung der über 900 Filialen zu verbessern, baut die Coop-Tochter Bell derzeit in Oensingen ein modernes Verteilzentrum. Die zentrale Lage und ein KI-gesteuertes Bestellsystem sollen Lieferzeiten verkürzen. Alle Coop-Filialen, die bis um 15 Uhr bestellen, erhalten die Ware bereits am nächsten Morgen – auch dies soll der Lebensmittelverschwendung entgegenwirken.
Politik macht Druck auf die Detailhändler
Solche Massnahmen passieren nicht nur freiwillig, denn die Politik macht Druck. Der Bundesrat hat im April 2022 einen Aktionsplan gegen die Lebensmittelverschwendung verabschiedet. Zentral dabei: die Menge an Food-Waste bis 2030 gegenüber 2017 zu halbieren.
Die Detailhändler müssen messbare Reduktionsziele festlegen und dem Bund jährlich über ihre Fortschritte Bericht erstatten. Dazu haben sie sich im Verein United Against Waste zusammengeschlossen. Neben Coop gehören ihm Migros, Aldi, Lidl und Volg an, ebenso Mühlen, einzelne Restaurants und Bäckereien.
Zurzeit findet eine Erhebung der Zahlen statt, sodass das Bundesamt für Umwelt im Jahr 2025 einen ersten öffentlichen Bericht erstellen kann. Ob die beteiligten Detailhändler im Plan sind, kann man heute noch nicht sagen. «Es braucht eine gewisse Zeitreihe, diese liegt noch nicht vor», sagt Markus Hurschler, Geschäftsleiter von United Against Waste.
Die EU ist bereits einen Schritt weiter. Seit letztem Jahr müssen alle Mitgliedsstaaten jährlich der Kommission die nationalen Lebensmittelverluste rapportieren, und ab diesem Jahr müssen sie über rechtlich bindende Reduktionsziele verfügen.
In der Coop-Filiale in Wettingen ist inzwischen Ladenschluss. Zeit für den Kassensturz: 3200 Kundinnen und Kunden gingen ein und aus – das sind etwas weniger als die 3300 im Tagesdurchschnitt.
Und die Food-Waste-Bilanz? Rund 100 Kilo welkes Gemüse und Früchte samt Verpackungen landen in einem riesigen grünen Plastiksack. Die Filialchefin erklärt, dass dieser in die «biologische Verwertung» gelangt. Zehn grosse Kisten nicht verkauftes Gebäck wie Tessinerbrot, Gipfeli und Patisserie – geschätzt mindestens 15 Kilo. Sie kommen zum einen Teil zurück ins Verteilzentrum Schafisheim, zum anderen zur Schweizer Tafel. Am nächsten Morgen werden die Brotwaren abgeholt.
Und ausserdem der Teil, «der am meisten schmerzt», wie Filialleiterin Windlin sagt: drei Harassen mit frischen Fertiggerichten, die nicht mehr verkauft werden konnten: rund 15 Kilogramm Pizza, Sushi, Edamame, Truthahn-Tonnato, Crevetten in Cocktailsauce, Bio-Picknick-Eier, Milch, Wildmenüs mit Spätzli und Hirschfleisch, mehrere noch warme gebratene Pouletschenkel. All das kippt Windlin in den Abfall.
Insgesamt sind es an diesem Dienstag im Dezember zurückhaltend geschätzt rund 115 Kilogramm Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können. Dabei sind jedoch die Lieferungen ans Restaurant und an die sozialen Einrichtungen, die tagsüber erfolgt waren, noch nicht eingerechnet.
Vor allem von Sushi, Crevetten und Edamame hat Erika Windlin zu viel bestellt. An diesem nasskalten Wintertag sind sie die schwarzen Bananen. Niemand wollte sie – auch nicht zum halben Preis.
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