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Interview zu Fake News, Manipulation und Subversion
«Trump kommt aus dem Establishment, inszeniert sich aber als Opfer»

Auf der Plattform X hat der republikanische US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump sein Polizeifoto gepostet und sich als Opfer stilisiert.

Frau Sasse, im US-Wahlkampf stellen sich Trumpianer als Opfer dar, als Kämpfer für die angeblich unterdrückte Freiheit. Dabei schränken ausgerechnet sie Frauenrechte ein, fordern Buchverbote und wollten 2021 eine demokratische Wahl kippen. Ist Opfersein das angesagte Narrativ?

Dass sich Menschen in Machtpositionen als Opfer ausgeben, ist heute typisch. Und Trump ist einer ihrer Meister: Er eignet sich gerne Äusserungen von Leuten an, die unterdrückt und verfolgt werden. Er kommt aus dem Establishment, stilisiert sich aber als Opfer dieses Establishments. Er verwendet selbst Quatschtheorien, wehrt aber alles, was ihm nicht passt, auch wenn es wissenschaftlich belegt ist, als «Fake News» ab. Und seine Anhänger tun das auch. Sie fordern absolute Freiheit und verbannen gleichzeitig Bücher aus Bibliotheken, wenn die Inhalte nicht ihrem reaktionären Weltbild entsprechen, wenn etwa queere Menschen Protagonisten sind oder Rassismus kritisiert wird – zugleich behaupten sie, ihre Sicht werde unterdrückt. Dass solche Verkehrungen als Propaganda und Machttechnik genutzt werden, kann man auch bei Wladimir Putin beobachten.

Bei Putin?

Putins Erzählung «Befreiung der Ukraine von einem faschistischen Regime», bei der der Angriffskrieg als Verteidigungskrieg dargestellt wird, hat in Russland bis heute Geltung. Damit werden die russischen Bürger und Bürgerinnen quasi ruhiggestellt, denn so können sie glauben, dass Putin einen heldenhaften Kampf gegen den Westen führt, wo es – im Unterschied zu Russland – keine Meinungsfreiheit mehr gebe.

Bei der kürzlich abgehaltenen russischen Wahl konnte man sehen, dass es auch Exilrussen hierzulande gibt, die diese Erzählung glauben.

Für die Russen und Russinnen im Inland ist es bequem, in dieser Verkehrung zu leben: Sie ist widerspruchsfrei und heroisch, und sie schafft neue Karrieren. Dass Putins Propaganda vom «kollektiven Westen» als Diktatur auch bei einigen Exilrussen verfängt, ist unerträglich. Aber es gibt nicht nur Exilrussen, die Putin wählen; auch einige rechte und ultralinke Parteien des Westens versuchen, aus Putins Propaganda politisch Kapital zu schlagen. Auch sie wittern hierzulande überall Einschränkungen von Freiheit und äussern sich gleichzeitig nicht oder kaum zu den massiven Repressionen in Russland.

Sylvia Sasse, aufgewachsen in der DDR, hat seit 2009 den Lehrstuhl für Slawistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich inne.

Ihr neues Buch trägt den Titel «Subversive Affirmation». Was heisst das?

Ich beschreibe da nicht manipulative Verkehrungen ins Gegenteil wie im Buch davor, sondern eine künstlerische und vor allem kritische Praxis, die man als subversive Affirmation kennt. Viele Kunstschaffende in den Diktaturen Osteuropas beispielsweise nutzten subversive Affirmation: Sie haben staatliche Symbole oder Alltagsrituale scheinbar bejaht, um erstens überhaupt künstlerisch tätig sein können, und zweitens, um mit diesen etwas Kritisches machen zu können. In Polen wurden so früher staatliche Maidemonstrationen plötzlich zu Kundgebungen oppositioneller Künstlerinnen und Aktivisten. Die Logik dahinter war einfach: Wenn der Staat schon ein absolutes Ja zu allem verlangt, dann kann man dieses Ja auch übererfüllen und zu Kritik werden lassen. Aber auch im Westen gibt es solche Strategien.

Haben Sie ein Beispiel?

Etwa den Theatermann Christoph Schlingensief. Er nahm die fremdenfeindlichen Sprüche der österreichischen rechten Partei FPÖ wörtlich und baute mitten in Wien auf dem Opernplatz ein Abschiebelager, aus dem man Asylbewerber à la «Big Brother» per Telefonanruf aus dem Land herauswählen konnte. Schlingensief tat, wovon die FPÖ bis dahin nur geredet hatte, nahm ihre Parolen ernst, stimmte ihnen scheinbar zu und inszenierte auf ihrer Basis eine tatsächliche Abstimmung durch das Volk. Schlingensief nannte das ein «Durchspielen» der FPÖ und, etwas abstrakter, eine «Spiegeltechnik».

Spiegeltechnik?

Subversive Affirmation bedeutet entweder, einer Haltung scheinbar zuzustimmen und diese auf eine Weise ernst zu nehmen, dass sich ihr gefährlicher oder unsinniger Inhalt wie von selbst offenbart – als Spiegeltechnik. Oder aber sie geht weiter als eine Spiegelung: Dann bedeutet subversive Affirmation, von dieser Position aus etwas Neues, anderes zu machen und so Aussagen und Handlungen durch Alternativen zu hinterfragen.

Wo nehmen Sie das wahr?

Etwa beim Schweizer Theatermacher Milo Rau. Er hat mal gesagt, es sei ihm wichtig, Dinge nicht einfach zu kritisieren, sondern durch eine andere, vielleicht ja bessere Praxis zu ersetzen. Er hat zum Beispiel Gerichtsprozesse gegen Kunstschaffende, die in den 2000er-Jahren in Moskau mit zweifelhaften juristischen Methoden durchgeführt wurden, noch einmal wiederholt; und zwar 2013 im Moskauer Sacharow-Zentrum, dem «Zentrum für Frieden, Fortschritt und Menschenrechte», das inzwischen vom Staat «aufgelöst» wurde. In seiner Version wurde tatsächlich diskutiert, kamen die Angeklagten zu Wort und wurden auch Verteidiger der Anklage zugelassen, die etwas von Kunst verstanden.

Welche Chancen stecken denn im Konzept der subversiven Affirmation für die Gesellschaft?

Subversive Affirmation, die als Kritik funktioniert, macht uns auf unser alltägliches Jasagen aufmerksam. Wem stimmen wir warum zu? Da geht es um grosse Politik. Es wird beispielsweise gefragt, wie es passieren kann, dass die russische Bevölkerung in grossen Teilen offenbar einem verbrecherischen Regime zustimmt. Oder wieso die Republikaner in den USA damit einverstanden sind, dass ihre Partei künftig von einem Familienclan geführt wird, der mehrfach angeklagt und bereits verurteilt ist. Weshalb wir alle so oft Dingen zustimmen, die wir eigentlich ablehnen, ist für mich eine der wichtigsten Fragen überhaupt. Wie funktioniert Opportunismus, Mitläufertum, Jasagerei? Ist es Kapitulation, ist es Pragmatismus oder Karrierismus? Oder ist es bewusste Zustimmung?

Wie lautet Ihre Antwort?

Das muss jeder und jede Einzelne für sich herausbekommen. Dafür ist es jedoch wichtig, sich diese Frage überhaupt zu stellen. Die künstlerischen Verfahren, die ich in «Subversive Affirmation» vorstelle, machen die Grenzen zwischen bewusster Zustimmung, welche die Basis demokratischen Denkens und Handelns ist, und allen anderen Formen von Zustimmung oft sehr unangenehm spürbar.

Das Kunstkollektiv Zentrum für Politische Schönheit zeigte neulich ein Deepfake-Video des deutschen Bundeskanzlers Scholz, in dem er ein AfD-Verbot ankündigt. Scholz’ Sprecher zeigte sich empört – auch, weil solche Methoden Verunsicherung schüren würden. Könnte man das trotzdem als subversive Affirmation betrachten?

Ja, absolut. Diese Art von subversiver Affirmation ist bekannt geworden durch die US-Gruppe The Yes Men. Diese haben zu Beginn ihrer Aktionen durch radikale Zustimmung auf die Idiotie des Jasagens aufmerksam gemacht. Dann sind sie dazu übergangen, diejenigen, die sie kritisieren, etwas sagen zu lassen, das man nicht erwartet. Am bekanntesten ist ihre Aktion über die Bhopal-Katastrophe.

Das Deepfake-Video mit Kanzler Olaf Scholz wurde auf Antrag der Bundesregierung Mitte Februar 2024 per einstweiliger Verfügung verboten.

Wie ging sie?

Im indischen Bhopal starben 1984 wegen einer Chemiekatastrophe 3500 Menschen, Hunderttausende trugen meist schwere Folgeschäden davon. Das Werk des Unternehmens Union Carbide India Limited, zu 51 Prozent in Besitz eines US-Chemiekonzerns, hat die Opfer nicht entschädigt. Da setzten die zwei Künstleraktivisten von The Yes Men an. Einer schummelte sich 2004 als Pressesprecher der Firma ins Fernsehen der BBC, entschuldigte sich bei den Opfern, übernahm die volle Verantwortung und kündigte 12 Milliarden Dollar Entschädigung an. Das Statement schlug ein wie eine Bombe und machte deutlich, wie es auch ginge. Hier sehen wir, dass The Yes Men keine Fake News verbreiten, um zu lügen, sondern um Kritik an dem zu üben, was nicht passiert ist, aber aus ihrer Sicht notwendig wäre. Ich denke, dass das Zentrum für Politische Schönheit eine ähnliche Absicht hatte. Es geht um die Frage, ob und warum man einem Verbot zustimmen würde.

Führt die Verwendung von Deepfakes oder auch nur von Retuschen nicht in der Tat zur weiteren Verunsicherung der Bevölkerung, sodass sie seriösen Medien und den Wissenschaften misstraut?

Es macht einen Unterschied, ob man Deepfakes einsetzt, um die Bevölkerung zu täuschen, oder ob man mit Deepfakes versucht, das kritische Bewusstsein zu stärken. Entlarvt werden Deepfakes und auch Fake News ohnehin in Windeseile; bei Deepfakes, die unser Kritikvermögen adressieren, gehört die Entlarvung allerdings zum Konzept. Was seriöse Medien und die Wissenschaften viel eher gefährdet, sind oft klassische Methoden. Denn Desinformation beruht nicht nur darauf, Falschinformationen gezielt zu produzieren, sondern auch darauf, vorhandene überprüfbare Informationen, wissenschaftliche Daten und historische Fakten permanent als ‹Lüge› zu interpretieren und ihre Evidenz zu entwerten. Da wären wir wieder bei Trump und Putin.