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Mamablog: Mut zur langen Weile
Dir ist langweilig? Grossartig!

Pause im Bespassungsprogramm? Toll, denn so eröffnen sich ganz neue Welten.
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1985. Sommerferien. Irgendwo im Niemandsland eines sehr, sehr trockenen toskanischen Stücks Erde, unter dem dummerweise gefühlte drei Millionen Knochen äusserst toter Etruskerinnen und Etrusker lagen. Noch blöder war da nur die Tatsache, dass nebst einer Horde strammer Touristen mit Hut, Bauchtasche und Reiseführer auch meine Eltern ganz wild auf das alte Zeugs waren. 

Wenn ich das überleben wollte, musste ich mich sofort in eine bessere Welt beamen. 

Verzückt lauschten alle der Reiseleiterin, die endlos ihre archäologischen Kenntnisse zum Besten gab. Und zwar so knochentrocken, dass ich schlagartig wusste, wo und wie es zu dieser Wortkreation gekommen sein musste. Noch heute fühle ich, wie die Sonne Löcher in meine Haut brannte, wie jeder Atemzug Staub in meine jugendlichen Lungen pumpte. Vor allem aber fühle ich noch immer, wie unerträglich gross meine Langeweile, wie aussichtslos mein Entkommen aus ihr war. 

Und als die Reiseführerin schon wieder Luft holte und triumphierend eine weitere olle Scherbe – die wohlgemerkt tupfgenau gleich aussah wie die 5000 zuvor – aufhob, resignierte ich. Es hatte keinen Sinn. Wenn ich das überleben wollte, musste ich mich ergeben und mich sofort, und zwar wirklich sofort, in eine bessere Welt beamen. 

Mein Happy End mit Gianluca

So legte ich mich unter den einzigen Baum der Skelettwüste und lenkte meine Gedanken zur Disco auf dem Campingplatz, wo mich dieser nette Junge namens Gianluca am Vorabend auf der Tanzfläche gefragt hatte, was für Fussballmannschaften wir denn in der Schweiz hätten. Leider hatte ich auch nach der geflissentlichen Übersetzung meiner Mutter nur verlegen stumm zu Boden geguckt, denn Gianluca war einfach zu süss. Aber heute, ja heute Abend würde alles anders werden. Mangels Sprachkenntnisse würde ich einfach lachen, tanzen und mit ihm danach eine Runde Pingpong spielen, bevor…. 

Doch was die Generation meiner Eltern irgendwie besser konnte als wir heute, war, Kindern einfach mal abgrundtiefe Langeweile zuzumuten. 

«Sabine! Komm, wir gehen!», ertönten da die Stimmen meiner Eltern, die offensichtlich genug Knochen inhaliert hatten. Doch nun fand ich es wiederum eine Zumutung, an diesem doch so gemütlichen Ort aus meinen Träumen gerissen zu werden. Denn die tödliche Langeweile hatte etwas Wunderbares möglich gemacht: ein Happy End mit Gianluca.

Besser als ihr Ruf: Langeweile ist ein ausgedehnter Moment, der uns zu uns selbst und zu unserer Fantasie führt.

An diese Geschichte musste ich in meiner Mutterkarriere immer mal wieder denken. Zum Beispiel, wenn unsere Familienferien mal wieder ach so kinderfreundlich waren. Denn selbst wenn ich mich ebenso glühend für tote Etrusker interessiert hätte wie meine Eltern, hätte ich meinen Kindern diese staubtrockene Erwachsenenwelt wahrscheinlich nicht zugemutet, ohne zumindest etwas Interessantes für sie einzubauen. Das hat seine Berechtigung. Doch was meine Eltern – und wahrscheinlich überhaupt ihre Generation – irgendwie besser konnten als wir heute, war, Kindern einfach mal abgrundtiefe Langeweile zuzumuten. 

Die Wichtigkeit der Langeweile

Denn im Jahr 2022 kennen nicht mehr viele Kinder Langeweile. Zu dicht ist ihr Bespassungsprogramm, zu sehr sind sie sich Unterhaltung gewohnt, zu verfügbar sind die Medien. Zu schnell zucken wir zusammen, wenn das Kind «Mir ist langweilig» sagt. Vielleicht weil wir einen leisen Vorwurf daraus hören? Weil wir das nicht verstehen können, wo doch das Kinderzimmer voll ist mit Kram? Weil wir Langeweile nicht als das Tor zu etwas Eigenem sehen, sondern sie auch für uns etwas darstellt, dem wir gerne aus dem Weg gehen? Weil wir schon ein fünfminütiges Warten auf den Bus mit einem nervösen Griff zum Handy quittieren, statt zuzulassen, dass wir für einen kleinen Moment auf uns selbst zurückgeworfen sind? 

Nur wer Leerstellen aushält, hat Zugang zu seinen Sinnen – und potenziell guten Ideen.

Mit diesem Umgang verpassen wir aber die Wichtigkeit der langen Weile. Denn genau das ist sie: Ein ausgedehnter Moment, der uns zu uns selbst, unserer Fantasie, unseren Sinnen, unserem Befinden und manchmal sogar zu einer richtig guten Idee führt. Um das Glas mit solch einem prickelnden Drink zu füllen, muss es aber erst einmal vom abgestandenen Sirup befreit sein. Und das geht nicht, ohne Leerstellen auszuhalten, statt gleich eine Ablenkung aus dem Ärmel zu schütteln. «Dir ist langweilig? Das ist grossartig!», könnte eine interessante Reaktion sein, auch wenn uns darauf ein wütender Blick aus blitzenden Kinderaugen trifft.

Sie wollen wissen, wie es mit Gianluca und mir ausgegangen ist? Gar nicht. Ich habe den Kerl nie wieder gesehen. Aber das ist egal. Denn dank den zwei langweiligsten Stunden meines Lebens erinnere ich mich fast fünfzigjährig noch immer daran, wie es war, mit Gianluca Pingpong zu spielen. Und was danach alles hätte geschehen können …