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Papablog: Wie wir uns erinnern
War früher alles besser?

Heile Welt: Dass es eigentlich das blaue Fahrrad hätte sein sollen, vergessen wir gerne.
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Wie kann früher eigentlich alles besser und zugleich schlechter als heute gewesen sein? Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich anderen Eltern (und mir selbst) bei Gesprächen über damals zuhöre, werde ich das Gefühl nicht los, dass da irgendwas nicht stimmt. Auf der einen Seite war alles besser. Als Kinder hatten wir es viel besser, wir sind noch richtig rausgegangen, haben uns im Wald rumgetrieben, zwanzigköpfige Einhornherden mit blossen Händen gefangen und sind auf Bäume geklettert, die keine Äste hatten. Die Schule war noch richtig hart, die Sonne ging erst unter, wenn wir mit Spielen fertig waren und dieses oder jenes gruselige Erziehungsritual «hat uns schliesslich auch nicht geschadet».

Auf der anderen Seite war alles sehr viel schlechter. Wir hatten ja nichts. Unsere Wohnverhältnisse waren so beengt, dass wir ständig in den Wald geschickt wurden, es gab überhaupt keine Einhörner und das grosse Waldsterben hatte eingesetzt. In der Schule gab es nur öden, hirnerweichenden Frontalunterricht mit Auswendiglernen, man wusste nie wie spät es eigentlich ist und von diesem oder jenem gruseligen Erziehungsritual haben wir uns auch als Erwachsene immer noch nicht erholt.

Ein anderer Aggregatzustand

So oder so ähnlich höre ich es andere Eltern immer wieder erzählen. So oder so ähnlich erzähle ich es. Und zwar über die exakt gleichen Dinge und Begebenheiten. Übrigens nicht nur auf die Kindheit bezogen. Auch wenn sich Menschen über ihre Erfahrungen als Eltern austauschen, haben inhaltlich eigentlich gleiche Anekdoten oftmals einen anderen Aggregatzustand.

Ich war mir sehr lange nicht sicher, warum das wohl so ist. Warum meine älteste Tochter je nach Gesprächssituation mal ein total pflegeleichtes Baby war, das wir überall hin mitnehmen konnten, meistens geschlafen und sich selten beschwert hat, oder eben oft am Schreien war, nie abgelegt werden konnte und ständig irgendetwas wollte. Ich vermute, wir erzählen Erinnerung vor allem funktional. Also wenn sie einem bestimmten Zweck dienen soll. Den eigenen Kindern etwas zu veranschaulichen beispielsweise. Oder anderen Eltern Überforderung beziehungsweise Kompetenz zu verdeutlichen.

Der Segen der Erinnerung

Vermutlich ist das vollkommen normal und geht auch gar nicht wirklich anders. Aber manchmal frage ich mich schon, wie es denn nun wirklich war. Sind wir auf Einhörnern geritten oder hatten wir nicht einmal das Geld, um uns Zahnstocher oder Streichhölzer für das Basteln von Kastanienpferden zu kaufen? Vermissen wir das Essen unserer Eltern oder hat es einfach nur widerlich geschmeckt? Hatten wir ein Schreibaby oder einen zufrieden vor sich hin glucksenden Sonnenschein? Und wenn es meistens beides war und womöglich sogar gleichzeitig: Warum sagen wir es dann nicht? Das Baby hat mich völlig fertig gemacht, meistens war ich ziemlich zufrieden. Der Hackbraten meiner Eltern war grossartig, die Suppen einfach nur furchtbar. Ich hatte ein Stoffeinhorn, für das ich mir die tollsten Geschichten ausgedacht habe, aber eigentlich wollte ich ein Schaukelpferd.

Vielleicht ist es ja ein Segen, dass sich Erinnerungen nicht immer gleich anfühlen müssen, dass sie durch unsere momentane Gefühlslage aktualisiert werden und in einen Kontext eingebettet werden. Dass sich unsere Vergangenheit mit einem Gesprächsverlauf immer neu entwickelt und erzählt. Aber neugierig darauf, wie es wirklich war, wäre ich schon.