Klimareportage Die Hitze der anderen – so fühlt sich die Erderwärmung ausserhalb Europas an
Strassenschluchten wie Glutöfen, ausgedörrte Felder und überschwemmte Millionenstädte: Unser Autor schildert eindrücklich, wie die Menschen in Asien mit dem Klimawandel leben.
Früher sprach man über das Wetter, wenn man gar keine andere Idee mehr hatte. Heute ist Wetter das womöglich wichtigste Thema der Zeit. Langfristig gesehen vielleicht sogar wichtiger als der Krieg im Osten Europas und die eigene Versorgungslage, auch wenn Menschen natürlich dazu neigen, die Weltlage aus ihrer unmittelbaren Wahrnehmung abzuleiten.
Da der Sommer in der Schweiz in diesem Jahr etwas spät gekommen ist, wünscht sich vielleicht der eine oder die andere hinter vorgehaltener Hand ein bisschen Klimawandel. Auch wenn man sich sonst durchaus um die Schneelage in den Wintersportgebieten sorgt. Aber man kann sich nicht jedes Problem aneignen, es gibt ja auch noch einen Alltag, der bewältigt werden muss.
Den gibt es allerdings auch dort, wo der Zeigefinger stehen bleibt, wenn man den Globus einmal beherzt nach links dreht, nach Sri Lanka, Indien, Thailand, Laos und Vietnam. Den exotischeren Ferienzielen der Europäer. In den vergangenen Wochen wurden in Vietnam und Laos neue Temperaturrekorde aufgestellt. 44,1 Grad in Hoi Xuan, Vietnam, und 43,5 Grad in Luang Prabang, Laos, die höchsten Werte seit Aufzeichnung der Wetterdaten. (Mehr dazu: Oberfläche der Weltmeere so warm wie nie zuvor.)
Diese zweifelhaften Rekorde fielen nur wenige Wochen nachdem die Temperaturen in Thailand zum ersten Mal über 45 Grad gestiegen waren. Wer sich also ein Gefühl dafür verschaffen möchte, wie das so wird mit der Erderhitzung, der kann das derzeit eher in Bangkok als in Bern tun.
Es wird wohl in erster Linie langweilig werden. Die Behörden in Thailand riefen die Bevölkerung dazu auf, ihre Wohnungen nicht mehr zu verlassen. Das galt nicht nur für «empfindliche Personen», wie es in den Warnmeldungen sonst immer heisst, sondern für alle.
Ausser für die Kurierfahrer, die trotz der Gluthitze mit ihren Motorrollern durch die Hochhausschluchten rasen, um Waren an die Klimaanlagenbesitzer auszuliefern. Es sind die Lebensumstände, an die man sich in der Pandemie gewöhnt hat. Im Alltag könnte sich die Erderhitzung also anfühlen wie Corona forever.
Man will allerdings auch gar nicht rausgehen, wenn die Sonne so unbarmherzig von oben brennt und gleichzeitig der Beton von unten heizt. Die schicken Shoppingmalls wiederum werden bis auf 19 Grad heruntergekühlt, sodass man drinnen eine Jacke braucht, obwohl vor der Tür die Strasse brennt.
Man spürt die unterschiedlichen Einkommensgruppen deutlich, in einer sich überhitzenden Welt. Für die Ärmeren wird es zum Problem, dass die Stromrechnung sich rasch verdoppelt, während gleichzeitig die Energiepreise gestiegen sind wegen eines Kriegs im fernen Europa. Es hängt eben alles mit allem zusammen. Fährt man um diese Jahreszeit auf einem der bei Touristen beliebten Tuk-Tuks durch Delhi, Manila oder Jakarta, bläst einem die Hitze ins Gesicht, als würde man durch einen Heissluftföhn atmen. (Lesen Sie weiter: ETH-Studie: Teufelskreis im Regenwald.)
Wobei Manila und Bangkok neben der Hitze bald wieder mit Überschwemmungen kämpfen müssen, weil die Städte zu nah am Wasser gebaut sind. In Indonesien wird bereits eine neue Hauptstadt errichtet, weil auch Jakarta jedes Jahr heftiger von Überschwemmungen betroffen ist. Der reiche Stadtstaat Singapur hingegen wird seit Jahren so umgebaut, dass selbst ein Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Meter die Infrastruktur nicht zerstören würde.
In weniger hoch entwickelten Ländern zeigt sich das Problem entsprechend dramatischer. In Bangladesh beispielsweise hat die diesjährige Hitzewelle Proteste ausgelöst. Die durchschnittliche Höchsttemperatur stieg im April auf 42,8 Grad Celsius und war damit um 12,5 Prozent höher als im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Zum verstärkten Einsatz von Bewässerungspumpen in der Landwirtschaft kam eine höhere Einkaufsaktivität der Bevölkerung in den Abend- und Nachtstunden wegen des Ramadan.
Die Regierung in Dhaka musste die Stromversorgung für Millionen von Menschen aussetzen. Der Strom wurde auch gebraucht, um die für die Wirtschaft des Landes enorm wichtige Bekleidungsindustrie am Laufen zu halten, die westliche Firmen wie Gap, H&M, Zara und American Eagle Outfitters beliefert.
Auch in Indien verzeichnete man bereits im April einen Spitzenstromverbrauch, nach der Winterkälte im Norden und der folgenden Hitzewelle. Indien überholt derzeit China als bevölkerungsreichstes Land der Erde und steht mittlerweile schon auf Platz fünf der Volkswirtschaften. Also musste die Leistung von Kraftwerken und Solarparks erhöht werden, um Produktionsausfälle zu vermeiden. Doch der indische Strom wird zu mehr als 70 Prozent in Kohlekraftwerken erzeugt. So schliesst sich ein Kreis der Hölle. Und der umfasst auch Europa.
Rechnet man den Ausstoss auf die Bevölkerung um, sind die Schweiz, Deutschland und Österreich pro Kopf grössere Umweltverschmutzer. Zudem ist der Wohlstand, den die Europäer geniessen, zu Teilen auf Kosten der heutigen Klimasituation erwirtschaftet worden. Stichwort Kohle. So lange ist das nicht her.
Die Folgen des CO₂-Ausstosses der vergangenen Jahrzehnte in Südasien: Rekorddürren, auf die heftiger Monsun, Sturzfluten und Überschwemmungen folgten. Erst verdorrt die Ernte, dann können die ausgetrockneten Böden die Wassermassen gar nicht mehr aufnehmen, es kann nicht neu gesät werden, was wiederum die Nahrungspreise in die Höhe treibt.
Indien, der weltweit zweitgrösste Weizenproduzent, verlängerte deswegen in diesem Jahr bereits mehrmals ein bestehendes Exportverbot, da erst die staatlichen Weizenreserven aufgefüllt und die Inlandspreise gesenkt werden sollen. Das könnte sich bis 2024 hinziehen, vermuten Experten.
Das Welternährungsprogramm der UNO prognostiziert für 2023, dass mehr als 345 Millionen Menschen von einem hohen Mass an Ernährungsunsicherheit betroffen sein werden, wie Hunger bürokratisch umschrieben wird – mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2020. Daran sind neben dem Klimawandel diverse Krisen schuld, für die man in Europa derzeit kaum noch Aufmerksamkeit hat. Konflikte in Äthiopien, in Syrien, im Jemen, im Sudan, im Kongo oder in Afghanistan.
In Pakistan, das im vergangenen Jahr am stärksten vom Klimawandel betroffen war, wurden Millionen von Existenzen buchstäblich bei Überschwemmungen weggespült. Bis heute kämpft das Land mit den Folgen. Premierminister Shehbaz Sharif erinnerte die reichen Länder daran, dass Pakistan für weniger als ein Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen verantwortlich sei. Er sprach vor der UNO in New York von der «Verantwortung der Industrieländer, die diese Emissionen verursacht haben, uns beizustehen». Er wolle sich um «Klimagerechtigkeit» bemühen. Ein Begriff, den man sich in Europa merken muss, für die kommenden Jahrzehnte.
Ein «grüner Marshallplan» könnte helfen
Denn neben der Reduzierung der Treibhausgase wird es in Zukunft darum gehen, die Folgen des bisher übermässigen Ausstosses aufzufangen. Ein «grüner Marshallplan» könnte helfen. Es muss solider gebaut werden in den betroffenen Ländern, so wie heute schon in Singapur. Man müsste in Wasserkraftwerke und Solaranlagen investieren, so wie die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg in die deutsche Wirtschaft investiert haben.
Die UNO plant, einen Klimaschadenhilfsfonds aufzulegen, die G-7-Staaten wollen 600 Milliarden Dollar einsammeln und über fünf Jahre verteilt in Schwellenländer investieren. In den reichen Ländern sorgt man sich natürlich auch vor sogenannten Spillover-Effekten, wenn Massenmigration einsetzt, weil die Menschen sonst keine Lebensperspektive mehr haben.
Inzwischen kursiert die Idee von Klimapässen oder -visa. Menschen, deren Lebensgrundlage zerstört wurde, sollen in Europa einwandern oder zumindest so lange bleiben dürfen, bis Anpassungsmassnahmen in ihrer Heimat die Rückkehr erlauben. Entweder man unterstützt den Kampf gegen den Klimawandel in den betroffenen Ländern mit vielen Milliarden, oder man muss die Menschen aufnehmen – so die Logik dahinter.
Klimaschutz ist eine komplexe geopolitische Aufgabe geworden. Doch dort, wo man sie spürt, steht sie paradoxerweise oft gar nicht einmal im Vordergrund. Im vergangenen Wahlkampf in Thailand beispielsweise war Klimaschutz kein Thema. Im indischen Wahlkampf im kommenden Jahr werden Umweltthemen ebenfalls absehbar keine Rolle spielen. Erst kommt das Essen, dann der Umweltschutz.
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