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Interview zu Wahlen in Deutschland
«Merz bemerkt nicht, wie sehr er der AfD in die Hände spielt»

Jagoda Marinic auf der Frankfurter Buchmesse 2024 in Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland. ©xdtsxNachrichtenagenturx
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In der deutschen Politik kommt es nach den Wahlen zu grossen Verschiebungen. Friedrich Merz wird aller Voraussicht nach Kanzler. Regieren würde seine Union CDU/CSU wohl in einer Grossen Koalition mit der SPD. Die AfD ist so stark wie nie. Was bedeutet das für unser Nachbarland? Dazu äussert sich die Autorin Jagoda Marinic. Die Deutsch-Kroatin ist eine wichtige Stimme, vor allem bei den Themen Migration und Feminismus. Sie erklärt Deutschlands Politik auch in der «New York Times» oder der BBC. Zuletzt erschien von ihr das Buch «Sanfte Radikalität».

Frau Marinic, ist Friedrich Merz für Sie ein Hoffnungsträger?

Die Union, bestehend aus CDU und CSU, hat das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt. Ich hoffe, dass Friedrich Merz den innenpolitischen Kamikaze-Wahlkampf hinter sich lässt und erkennt, dass Deutschland eine starke Führung benötigt. Er ist aktuell noch kein Hoffnungsträger – aber er kann einer werden.

Kann sich Merz denn verändern, wenn er an der Macht ist?

Diese Hoffnung habe ich. Er hat es im Dezember gezeigt, als er die Ukraine besuchte und sich klar hinter deren Präsident Wolodimir Selenski stellte. Merz wird sicher realisieren, welche Verantwortung er in der aktuellen Lage Europas trägt. Der Kontinent ist geschwächt und droht zum Spielball von Putins Russland und Trumps USA zu werden. Nach der Wahl klang Merz auch anders, staatsmännischer.

Wofür steht Merz bislang für Sie?

Leider für die Vergangenheit. In meinem politischen Denken taucht Friedrich Merz um die Jahrtausendwende auf, als die Debatte um die Leitkultur begann. Schon damals bot diese Diskussion keine Antworten auf die Vielfalt der deutschen Gesellschaft, die heute noch grösser geworden ist. Ich fürchte, dass Friedrich Merz zu sehr in den alten Konzepten der CDU verhaftet bleibt.

Friedrich Merz, Spitzenkandidat der CDU, gestikuliert während einer Pressekonferenz im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin, 24. Februar 2025.

Merz sagte nach der Wahl, er wolle Politik machen für Leute, «die noch alle Tassen im Schrank haben». Was bezweckt er mit einer solchen Aussage?

Er glaubt, er könne wie Helmut Kohl die klassische Linie nach links ziehen, als es rechts von der CDU/CSU keine ernst zu nehmende Konkurrenz gab. Doch heute agiert er in einem internationalen Geflecht, in dem Ultrarechte weltweit an Einfluss gewinnen. Er bemerkt nicht, wie sehr er mit einer solch ausgrenzenden Rhetorik im Deutschland von heute der AfD in die Hände spielt. Die sagt ja auch, die anderen seien die Dummen, die Linken, die Aussenseiter.

Die Union hat weniger Stimmenanteile gewonnen als erhofft, die SPD ist die grosse Wahlverliererin. Trotzdem werden die beiden Parteien wahrscheinlich in einer Grossen Koalition regieren. Kann das gut gehen?

Elon Musk, Putins Trollfabriken und die Wirtschaftskrise – angesichts dieser Gemengelage ist das Ergebnis für Deutschland nicht das schlechteste. Eine Grosse Koalition mag wenig Begeisterung wecken, doch sie könnte die beste Alternative sein. Die Differenzen zwischen SPD und Union sind gross, doch die beiden Parteien sind ein eingespieltes Team. Die SPD hat zudem mit Boris Pistorius ein Aushängeschild, das zu den beliebtesten Politikern des Landes zählt. Die AfD bleibt zwar die grösste Oppositionspartei, ist aber nicht mehr die einzige laute Stimme. Neben ihr gibt es eine profilierte Linke und eine Grüne Partei, die sich neu erfinden muss. 

Geht es nach Donald Trump, wird Europa zukünftig für die Sicherheit der Ukraine garantieren. Auch Deutschland wird viel mehr Geld für das Militär ausgeben müssen. Ist die Grosse Koalition dazu bereit?

Friedrich Merz wäre angesichts des Ukraine-Kriegs und der autoritären Bestrebungen Trumps in Europa kein schlechter europäischer Kanzler. Wenn Boris Pistorius, wie zu erwarten, für Scholz in den Vordergrund rückt, hätten wir einen Verteidigungsminister, der sich auskennt und eine klar proeuropäische, proukrainische Haltung vertritt. Er würde die prorussische Vergangenheit der SPD hinter sich lassen. Eine Grosse Koalition mit zwei Persönlichkeiten, die für Verteidigungsrecht und ein starkes Europa stehen, wäre ein Fortschritt. Damit stünden wir besser da als mit dem bisherigen Kanzler Olaf Scholz, der zwischen klaren Ansagen und Zaudern schwankte, während SPD-Leute in der zweiten Reihe Russland zu nahe standen. Grössere Sorgen bereitet mir derzeit die Innenpolitik.

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius kommt zur Trauerfeier des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler am 18. Februar 2025 am Berliner Dom an.

Was meinen Sie konkret?

Deutschland steckt in einer Wirtschaftskrise. Trotz des Wohlstands leben hier überdurchschnittlich viele Menschen in Armut. Hinzu kommt ein massives Infrastrukturproblem. Wenn marode Brücken einstürzen, ist das ein deutliches Zeichen für mangelnde Fürsorge gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Oft hat man den Eindruck, niemand fühle sich verantwortlich. Die Probleme sind unübersehbar und spürbar. Es läuft vieles nicht rund, in vielen Bereichen lässt die Organisation zu wünschen übrig. 

Eine klare Mehrheit der deutschen Bevölkerung will eine härtere Asylpolitik. Die Hälfte will sogar Rückweisungen an den Aussengrenzen, obwohl das vermutlich nach europäischem Recht nicht legal ist. Was erwarten Sie da von der neuen Regierung?

Friedrich Merz ist es aus den 90er-Jahren gewohnt, dass man mit einer harten Asylpolitik Wahlen in der Mitte gewinnt, deshalb hat er wohl auch mit einem asylpolitischen Alleingang geliebäugelt. Wenn man ihn fragt, wie er sich gegenüber der Regierung Trump positionieren will, antwortet er aber stets: «Mit einem starken Europa.» Als Mann der Wirtschaft weiss er genau, wie sehr er die Europäische Union und den Binnenmarkt braucht. Zudem hat die EU mit dem neuen Migrations- und Asylpakt (Geas) das Asylsystem bereits deutlich verschärft. Deshalb wird Merz sich an ein starkes Europa halten müssen, um das nötige Gewicht zu bekommen. Die Alleingänge, die er im Wahlkampf inszenierte, kann er in der Regierung nicht fortsetzen – und das weiss er.

«Statt eines Migrations­diskurses bräuchte es einen stärkeren Fokus auf Kriminalitäts­bekämpfung und Sicherheit.»

Die AfD wird aber weiter Druck auf die Regierung ausüben, eine strenge Asylpolitik zu verfolgen – und weiss die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.

Viele in Deutschland fürchten, dass der Staat sie nicht ausreichend schützt. Auch Migrantinnen und Migranten. Sie fordern eine funktionierende Sicherheitspolitik und Behörden, die Gefahren rechtzeitig erkennen. Viele Anschläge hätte man verhindern können, hätten die zuständigen Beamten genauer hingesehen. Die Behörden hatten oft genug Mittel, um zu handeln. Würde man das Thema so angehen, dass es die Menschen eint – mit dem Versprechen, für Sicherheit zu sorgen –, entstünde ein anderer Diskurs.

Was stört Sie am Diskurs der AfD?

Die AfD schiebt die Schuld pauschal der Einwanderungspolitik zu, Merz und weite Teile der Medien haben sich auf diesen Einthemenwahlkampf eingelassen. Dabei ignoriert sie sogar die Millionen Menschen, die auf die Strasse gingen. Viele Bundesbürger wollen Eingewanderte nicht unter einen Generalverdacht stellen. Statt eines Migrationsdiskurses bräuchte es einen stärkeren Fokus auf Kriminalitätsbekämpfung und Sicherheit. Gleichzeitig fehlt in der Debatte ein positiver Blick auf Einwanderung. 

Wie meinen Sie das?

Deutschland muss die Wirtschaft stärken und die Einwanderung sinnvoll steuern. Wenn das Land jedoch als rassistisch wahrgenommen wird, verliert es an Attraktivität für die Fachkräfte, die es dringend benötigt. Viele junge Menschen, etwa in Pflegeberufen, zeigten in viral gehenden Videos, wie wichtig Einwanderung ist. Würde man alle seit 2016 Eingewanderten wegschicken, blieben in manchen Spitälern und Pflegeeinrichtungen nur drei von zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern übrig. 

In der Schweiz gibt es Fürsprecher der AfD. Sie sagen, man müsse die AfD nur stärker einbinden, dann würde sie sich mässigen. Was halten Sie davon?

Historisch gibt es kaum Belege für den Erfolg dieser Strategie. Auch im Vergleich mit den Nachbarländern fehlt es an empirischen Beweisen, dass man Parteien so zähmen könnte. Viel wahrscheinlicher ist der Erfolg einer Strategie wie in Spanien. Dort regieren progressive Parteien, die sich von der ultrarechten Vox abgrenzen.

Sie wird sich nicht mässigen, glaubt Jagoda Marinic: Alice Weidel zusammen mit Björn Höcke am Wahlabend in Berlin.

Alice Weidel sagte nach der Wahl, die AfD werde «entspannt Politik für unser Land machen». Und schob dann gleich hinterher: «Wir werden die anderen jagen.» Was gilt jetzt?

Das ist ihre Wolf-im-Schafspelz-Taktik. Die AfD hat eine stabile Anhängerschaft, die sie stets umwirbt. Um diese Kernwähler nicht zu verlieren, streut sie gezielt kleine Dosen Gift – gerade so viel, dass die Anhänger sich bestätigt fühlen. Deshalb nimmt sie den Ausspruch «Wir werden sie jagen» des früheren AfD-Spitzenpolitikers Alexander Gauland auf, aber nicht mit der damaligen Wucht. Sie gibt sich jetzt bürgerlich-freundlich, spricht von «entspannt Politik machen». Das ist eine Strategie der Täuschung, die man ernst nehmen muss. Anzeichen einer Mässigung gibt es nicht. Am Wahlabend stand Alice Weidel neben Björn Höcke, der zum extremistischen Parteiflügel gehört. 

Nach den Wahlen im September 2021 zeigten Sie sich im Gespräch mit dieser Redaktion wenig optimistisch. Wie sehen Sie die Zukunft Deutschlands aktuell?

In diesen Zeiten schämt man sich fast, optimistisch zu sein. Man glaubt, nicht klug genug zu sein, um das Elend der Zeit zu erkennen. Doch als Verfechterin der Demokratie halte ich Zuversicht für notwendig. Damals war ich pessimistisch, weil ich voraussah, dass sich die etablierten Parteien blockieren würden. Ich ahnte, dass Christian Lindner und Robert Habeck vielleicht schöne Selfies machen können, aber keinen dauerhaften Konsens finden würden. Dazu kam ein führungsschwacher Kanzler wie Olaf Scholz.

Christian Lindner, Sahra Wagenknecht und Matthias Miersch stehen vor einem TV-Duell vor der Bundestagswahl 2025 in Berlin.

Und heute?

Habe ich Hoffnung. Dass Deutschland trotz dieser schwierigen Wochen nicht wie andere europäische Länder ultrarechte Parteien wählte, zeigt seine potenzielle Stärke. Viele Wählerinnen und Wähler spüren offenbar, wie wichtig es ist, differenziert zu denken. Ich vertraue auf die demokratische Wiederbelebung. Auf die Opposition, in der es eben nicht nur die AfD, sondern auch Grüne und Linke gibt – und in der FDP und das Bündnis von Sahra Wagenknecht keine Rolle mehr spielen. Das ist ein Vorteil, denn Konflikte mit profilierungssüchtigen Politikern wie Wagenknecht und dem FDP-Chef Christian Lindner fallen weg. Ich hoffe wirklich, dass die Grosse Koalition zusammen regieren kann. Eine funktionierende Regierung der breiten Mitte wäre angesichts der prorussischen Desinformationskampagne durch die sozialen Medien ein kleines demokratisches Wunder.