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Unfreiwillig in Teilzeit
Der Traum vom Vollzeitjob: «Die Frage stellt sich bei mir gar nicht»

Schauspielerin Wanda Wylowa ist froh, wenn sie überhaupt etwas machen kann.
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Wir Schweizerinnen und Schweizer werden immer fauler? Viel ist dieser Tage die Rede davon, all die hiesigen Teilzeitbeschäftigten zu motivieren – oder allenfalls mit Druck und Strafzahlungen dazu zu drängen –, ein Vollzeitpensum anzunehmen. Aber ist die Klage überhaupt gerechtfertigt? Die Fakten lassen daran zweifeln.

Aktuell beträgt der durchschnittliche Beschäftigungsgrad von Erwerbstätigen in der Schweiz rein rechnerisch 72,3 Prozent, also mehr als noch vor zwanzig Jahren. Auch absolut betrachtet wuchs die Zahl an geleisteten Arbeitsstunden seit 2002 um mehr als 404 Millionen Stunden. Allerdings gibt es eben auch deutlich mehr Erwerbstätige – viele davon mit Teilzeitpensum. Doch keineswegs alle haben sich das so ausgesucht!

Arbeitnehmende, die unfreiwillig Teilzeit arbeiten oder zumindest weniger Arbeitsprozente haben, als sie es sich eigentlich wünschen, werden als «Unterbeschäftigte» bezeichnet. Für das 4. Quartal des Jahres 2022 meldet das Bundesamt für Statistik (BfS) 228’000 Unterbeschäftigte; 2020 strebten vier von zehn unterbeschäftigten Frauen sowie sechs von zehn Männern eine Vollzeitbeschäftigung an, die Tendenz ist seit 2004 steigend.

Was heisst «unterbeschäftigt»?

Unter den Unterbeschäftigten werden statistisch auch Erwerbstätige erfasst, die gar nicht in der Lage sind, Vollzeit zu arbeiten, es aber gern würden: beispielsweise Leute, die Kinder oder andere Angehörige betreuen. Sie sind meist bereits zu 100 Prozent oder gar weit mehr im Einsatz. Oft käme eine externe Betreuung ihrer Schützlinge sie viel zu teuer, oder aber ihr Zuverdienst durch mehr Jobprozente würde sofort durch erhöhte Steuern zunichtegemacht.

Diese Art der Unterbeschäftigung trifft vor allem verpartnerte Mütter mit Kind(ern) sowie alleinerziehende Mütter. Wirtschaftspublizistin Anna Mayr vermutet dazu in dieser Zeitung, die «grosse Klage vom Fachkräftemangel» sei wohl «aufgebauscht». Ihre These: Wäre der Bedarf wirklich so gross, dann würden Arbeitgebende in private Kitas investieren und auch sonst bessere Bedingungen schaffen. Tatsächlich nimmt laut BfS der Wunsch, mehr zu arbeiten, mit dem Heranwachsen des Kindes zu und ist bei Frauen mit einem Kind zwischen 12 und 14 Jahren am höchsten: Fast ein Viertel (23,3 Prozent) aller Mütter mit einem Teilzeitpensum würde da gern die Arbeitszeit erhöhen.

Kunst- und Kulturschaffende sind meist für Projekte angestellt: Filmdreh am Hauptbahnhof Zürich im Januar 2023.

Oft gehen in der Debatte um die arbeitsscheuen Teilzeiterinnen und Teilzeiter zudem jene Personen unter, die schlicht keine entsprechende Vollzeitstelle gefunden haben – nach deren Arbeit der Arbeitsmarkt offensichtlich weniger verlangt. Vom Putzpersonal, das pro Woche nur da und dort jeweils ein paar Stunden arbeiten kann, über Kunst- und Kulturschaffende bis zur nicht-künstlerischen Uni-Absolventin sind viele betroffen.

«Ich kann mir nicht aussuchen, mach ich dieses Jahr zwei Stücke oder vielleicht vier oder fünf.»

Wanda Wylowa, Schauspielerin

«Als mein Bruder, der kein Künstler ist, laut darüber nachdachte, ob er sein Pensum erhöhen soll, realisierte ich: Diese Frage stellt sich bei mir gar nicht. Ich kann mir nicht aussuchen, mach ich dieses Jahr zwei Stücke oder vielleicht vier oder fünf. Auch Filmdrehs werden einem nicht nachgeworfen: Ich bin froh, wenn ich überhaupt etwas machen kann, auch wenn es super low budget ist», sagt die bekannte Zürcher Schauspielerin Wanda Wylowa.

Laut Studien sind auf dem Bildschirm pro eine Frau ab 50 Jahren fünf Männer ab 50 zu sehen: Da gebe es eine klare Alters- und Geschlechterguillotine. «Ich kenne sehr begabte Theaterleute, die nun auf Tramchauffeur umgesattelt haben, wo man im Monat fix 7000 Franken verdient», bedauert Wylowa.

In der Kultur sind unbefristete 100-Prozent-Anstellungen eher unüblich. Gängig sind Jobangebote wie jüngst das eines Zürcher Kulturhauses: «Coach/Fachleitung Theater- und Musikschaffende» zu 50 Prozent. Ähnlich bietet das Theater in Solothurn den Job «Theater-Dekorateur*in» im 40-Prozent-Pensum. Typisch sind auch projektbezogene, befristete Jobs wie eine Rolle in einer bestimmten Inszenierung.

Fast jeder oder jede fünfte Teilzeitarbeitende träumt vom Vollzeitjob.

Eine neue BfS-Umfrage bei Teilzeitarbeitenden aus verschiedensten Berufsfeldern belegt: 17,3 Prozent von ihnen würden gern Vollzeit arbeiten; 6,3 Prozent davon haben kein Vollzeitangebot gefunden, die anderen werden beispielsweise durch Kinderbetreuung davon abgehalten.

Der Detailhandel besetzt seine Stellen öfters in Teilzeit: Migros am Limmatplatz in Zürich.

In manchen Branchen stehen überdurchschnittlich viele Teilzeitbeschäftigte für eine Vollzeitstelle zur Verfügung, beispielsweise unter den Angestellten in Privathaushalten: 11 Prozent haben sich vergeblich um einen Vollzeitjob bemüht. Im Gastgewerbe sind es 13 Prozent. 15 Prozent würden für einen Vollzeitjob im heterogenen Feld von «sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen» bereitstehen; dazu gehören die Vermittlung von Arbeitskräften, Reiseveranstaltungen, Wach- und Sicherheitsdienst, Gartenbau.

Und mit 8 Prozent liegen eben auch Kunst und Unterhaltung über dem Durchschnitt, ebenso der Handel. In den Medien werden gleichfalls häufig Teilzeitstellen inseriert, etwa für Redaktoren und Redaktorinnen.

«Die Unterbeschäftigungsquote ist vor allem in Branchen mit vielen Frauen hoch.»

Daniel Kopp, KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH 

Der Detailhandel besetzt seine Stellen öfters in Teilzeit. Gerade hat etwa Office World eine Stelle für eine oder einen «Verkaufsberater*in in den Bereichen Papeterie, Bürotechnik und Möbel» inseriert: 50 Prozent im Stundenlohn.

Daniel Kopp von der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH geht von vielen Selbstständigen im Bereich Kunst und Unterhaltung aus sowie von etlichen Personen mit mehreren sehr kleinen Stundenpensen als Hauspersonal: Gruppen, die «Mühe haben, genug Aufträge zu finden». Er ergänzt, es sei «nicht überraschend, dass die Unterbeschäftigungsquote vor allem in Branchen mit vielen Frauen hoch ist, da diese besonders häufig ein höheres Pensum anstreben: Dazu gehören das Hauspersonal, das Gastgewerbe, der Handel, aber auch die Erbringung von sonstigen Dienstleistungen.»

Die Studierten

Aber den Studierten gehts vorderhand nicht unbedingt anders. So hat das BfS in Umfragen die Gründe für eine Teilzeitbeschäftigung unter tertiär Ausgebildeten ausgewertet und 2022 festgestellt: Fünf Jahre nach dem universitären Master-Abschluss hatte rund ein Viertel der Teilzeitbeschäftigten deshalb keinen Vollzeitjob, weil das Angebot dafür fehlte. Bei den FH-Bachelor- und PH-Absolventen und -Absolventinnen war der Stellenmangel zwar ein geringeres, aber durchaus existentes Problem (FH: 15 Prozent, PH: 14 Prozent).

Grosse Firmen oder Institutionen haben sich längst auf das Teilzeitmanagement eingestellt.

Ein Jahr nach dem universitären Master-Abschluss arbeiteten sogar rund ein Drittel der Befragten Teilzeit, weil sie keine Vollzeitbeschäftigung gefunden hatten (32 Prozent): So eine Stellensuche braucht Zeit. Ein Geschlechtergraben tut sich übrigens auch hier auf: So nennen die Männer mit einem PH-Lehrdiplom fünf Jahre nach Studienabschluss häufiger das mangelnde Angebot an Vollzeitstellen (20 Prozent) als Grund für ihre Teilzeitarbeit als Frauen (12 Prozent). Knapp ein Drittel der UH-Masterabsolventinnen wiederum bezeichneten die Kinderbetreuung als Grund für ihre Teilzeitarbeit, bei den Männern nur 23 Prozent.

Danke, kein Bedarf

Dabei würden Arbeitgeber zumindest in der Tendenz lieber Vollzeitbeschäftigte als Teilzeitbeschäftigte einstellen, sagt Daniel Kopp – teils aus arbeitsorganisatorischen Gründen, teils wegen zusätzlicher Kosten bei Administration oder Arbeitsinfrastruktur, teils wegen Vorurteilen gegen Teilzeitbeschäftigte. Andererseits hätten sich insbesondere grosse Firmen oder Institutionen längst auf das Teilzeitmanagement eingestellt.

Auf unsere Nachfrage beim Stadtspital Zürich, ob es beim Spital eine Präferenz gibt, wenn es, wie derzeit, Stellen für 50 bis 100 Prozent ausschreibt, hiess es: «Wir sind sehr offen, haben keine Präferenzen. Wir fokussieren nicht auf Administrativkosten, sondern auf die Präferenzen der Fachpersonen.» Sei eine Stelle hingegen nur in Teilzeitprozenten ausgeschrieben, habe man schlicht kein grösseres Aufgabenvolumen – keinen Bedarf. «Es geht dabei nicht um Sparmassnahmen.»

Angebote von 40- bis 50-Prozent-Stellen finden sich immer wieder gerade auch bei öffentlichen und halböffentlichen Institutionen, etwa im Bereich Sozialarbeit. Vollzeitarbeit ist nicht überall das, was der Arbeitsmarkt will.