Neue TeilzeitmodelleViertagewoche geht nicht für Coiffeure? Er zeigt, wie es doch funktioniert
Bei Graziano Cappilli, Inhaber einer Zürcher Coiffeurkette, arbeiten manche Angestellte nur 34 Stunden – und das bei gleichem Lohn. Wie geht das auf?
Das konnte Graziano Cappilli unmöglich auf sich sitzen lassen: Er hatte gehört, wie einer am Fernsehen sagte, dass die Viertagewoche bei Coiffeuren nicht funktioniere – und das war kein Geringerer als Rudolf Minsch, Chefökonom des Unternehmensverbands Economiesuisse. «Dabei haben wir die Viertagewoche doch schon seit über eineinhalb Jahren realisiert – und das ohne Umsatzverlust», sagt Cappilli und schlägt mit der Hand empört auf den Bistrotisch.
Deshalb sucht der 48-Jährige – einer der Sorte «geht nicht, gibt es nicht» – nun die Öffentlichkeit. Er sitzt vor der Filiale von Adesso Hair Design im Dorfkern von Rüti ZH. Es ist eines von elf Geschäften, die er mit seiner Frau Carmen im Grossraum Zürich und im St. Galler Rheintal führt, dort unter dem Label Amici Hair Design. Für den Coiffeur ist klar: Der Ökonom liegt falsch.
Letzterer begründet seine Aussage so: «Ein Coiffeur kann die Menge an Haarschnitten pro Stunde nicht erhöhen. Eine Reduktion auf vier Tage hätte zur Konsequenz, dass er pro Tag rund zwei Stunden mehr arbeiten müsste, um dasselbe Arbeitsvolumen zu bewältigen. Würde man aber die Löhne bei weniger Arbeit konstant halten, müssten die Preise um 20 Prozent steigen. Gerade für kleine und mittelgrosse Unternehmen würde die Rechnung nicht aufgehen.»
Weniger Arbeitsstunden bei 100-Prozent-Lohn
Wie aber schafft es Graziano Cappilli trotzdem – ohne von der Kundschaft mehr Geld zu verlangen? Sein Modell sieht eine kürzere Wochenarbeitszeit vor. Bei gleichem Lohn, gleicher Überstundenregelung und Ferien. Statt 43 Stunden arbeiten die Angestellten nur 34,4 Stunden pro Woche. «Das sind vier Tage à 8,6 Stunden.»
Wer so arbeiten möchte, kann sich dafür bewerben. «Voraussetzung ist, dass die Angestellte die Mindesterwartungen gemäss Gesamtarbeitsvertrag in Sachen Umsatz erfüllen kann.» Sie muss demnach auf einen Kundenstamm zurückgreifen können, mit dem sie mindestens zweieinhalbmal den im Vertrag verankerten Mindestlohn von gut 4000 Franken einbringen kann. Setzt sie mehr um, beteiligt sie der Chef am Umsatz. «Zur Belohnung hat sie einen Tag pro Woche mehr frei.»
Derzeit machen fünf Coiffeusen in vier Filialen vom Angebot Gebrauch. Das entspricht einem Zehntel der gesamten Belegschaft. Der Grossteil der Angestellten verzichtet, weil darunter viele Mütter sind, die ohnehin in Teilzeitpensen arbeiten.
«Coiffeur ist ein Beruf, der über persönliche Beziehungen funktioniert.»
«Die Rechnung geht auf, weil wir nicht die Präsenzzeit rechnen, sondern die effektiv umsatzgenerierende Zeit», erklärt Cappilli. Der Trick ist, dass leere Zeiten vermieden werden. Normalerweise habe eine Coiffeuse 20 bis 30 Prozent Leerzeiten, also Zeitblöcke, in denen keine Kundentermine gesetzt sind. «Sie kann ihren Umsatz also auch in vier Tagen erreichen, wenn sie die Lücken ausfüllt.»
Das geht aber nur, wenn die Mitarbeiterin gut plant und auf die Unterstützung ihrer Kolleginnen zählen kann. Wenn diese Plätze und Farben vorbereiten, die Haare waschen, während sie schneidet, und so weiter, könne eine bis zu drei Kundinnen gleichzeitig bedienen. Voraussetzung sei aber ein fester Kundenstamm. Stammkunden richteten sich auch nach den Präsenzzeiten «ihrer Coiffeuse». Denn: «Coiffeur ist ein Beruf, der über persönliche Beziehungen funktioniert.» Für Salons mit viel Laufkundschaften eignet sich das Modell weniger.
Was bringts? Fragt man die Frauen, die seit einem Jahr mit einer verkürzten Arbeitswoche leben, hat sie nur Vorteile. «Ich finde es megatoll, einen Tag mehr freizuhaben», sagt Michèle Reichmuth. Die Mittdreissigerin leitet zusammen mit Cappillis Sohn Elia die Filiale in Unterägeri ZG. Den zusätzlichen freien Tag verbringt sie mit der Familie und mit Sport. «Und ich kann einfach auch den Körper mal runterfahren.»
Work-Life-Balance für mehr Nachwuchs
Besser erholen kann sich auch ihre Kollegin Lutvije Muratoska, Leiterin der Amici-Filiale in Haag SG. Sie sei motivierter und habe mehr Energie, erzählt sie. Nachteile sehen sie keine. Beide würden um keinen Preis mehr zum alten Modell wechseln wollen.
Cappilli findet seine Errungenschaft «absolut perfekt». Zwar sind die Personalkosten gestiegen, aber mit knapp zwei Prozent «minimal». Die Mitarbeitenden seien weniger krank, weil die Work-Life-Balance stimme. Das ist ihm wichtig und neben dem Arbeitskräftemangel der Hauptgrund, weshalb er das neue Modell ausgetüftelt hat – nicht zuletzt auch deshalb, um junge Leute wieder für den Coiffeurberuf zu begeistern. Denn das Image des Berufs ist schlecht – schlechter Lohn, lange Arbeitszeiten. Es fehle an Nachwuchs und viele wanderten in andere Berufe ab, erzählt er.
Das Personalproblem hat ihm die Viertagewoche indes nicht gelöst, im Gegenteil. Der Chef braucht mehr Leute als zuvor. Dafür würden die neuen Angestellten aber auch neue Kundschaft mitbringen.
Die Gewerkschaft Unia kritisiert das Modell
Und was sagt die Wissenschaft zu Cappillis Viertagewoche? «Das scheint mir ein solides Modell zu sein. Es wirkt durchdacht», sagt Johann Weichbrodt. Der Organisationspsychologe von der Fachhochschule Nordwestschweiz forscht seit zehn Jahren zu flexiblen Arbeitsmodellen. «Es wird nicht nur die gleiche Arbeitszeit auf vier sehr lange Tage aufgeteilt, sondern es findet eine effektive Verkürzung statt.» Die Streichung der unproduktiven Zeiten hält er für vertretbar – «allerdings bedeutet es eben auch, dass Erholungszeiten, Zeiten für Austausch, und womöglich auch Zeiten fürs Aufräumen oder sonstige Tätigkeiten knapper werden. Es wird ‹weniger gemütlich›.»
Härter urteilt die Gewerkschaft Unia. «Eine Reduktion der Arbeitszeit darf klar nicht dazu führen, dass das gleiche Pensum in weniger Zeit unter noch grösserem Druck in kürzerer Zeit erledigt werden muss», sagt Nicole Niedermüller. Und es könne nicht sein, dass Angestellte für Umsatz sorgen müssten. «Das ist Teil des unternehmerischen Risikos des Arbeitgebers, das darf nicht auf die Angestellten abgewälzt werden.»
«Dass das unternehmerische Risiko zum Teil an die Beschäftigten weitergegeben wird», könne einerseits motivierend sein, andererseits aber auch finanzielle Unsicherheiten mit sich bringen. Dass die Viertagewoche nur für solche möglich ist, die bereits einen genügend grossen Kundenstamm haben, findet Weichbrodt aber «aus betriebswirtschaftlicher Sicht nachvollziehbar».
«Es ist ein Vorteil, keine Leerzeiten mehr zu haben, wenn man dafür einen Tag frei hat.»
Nicht ausgenutzt fühlen sich dagegen die betroffenen Coiffeusen. Natürlich seien ihre Tage voll, wenn sie arbeiten, die Mittagszeit kurz – eine gute Planung sei wichtig. Sie wisse genau, wie lange sie mit einer Kundin habe, wann sie wen zwischen Färben und Schneiden schieben könne, sagt Michèle Reichmuth. «Es ist ein Vorteil, keine Leerzeiten mehr zu haben, wenn man dafür einen Tag frei hat. Und am Abend weiss ich, was ich gemacht habe, das ist schön.»
Tatsächlich scheint die Viertagewoche aufgrund des Arbeitskräftemangels immer mehr Betriebe zu interessieren. Im Gastgewerbe und in der Hotellerie gibt es Beispiele wie das 25 Hours Hotel in Zürich, das Hotel Hirschen in Langnau BE oder Stefan Wiesners Mysterion im luzernischen Entlebuch. Sie alle haben die verkürzte Arbeitswoche eingeführt, ebenso Informatikfirmen wie Seerow in Solothurn oder Handwerksbetriebe wie die Zürcher Elektro Oberland GmbH oder der Ofenbauer Glutform Rüegg in Dietlikon ZH. Ihre Erfahrungen sind durchwegs positiv, wie sie bekunden.
Wie viele Betriebe schweizweit die Viertagewoche kennen, ist nicht bekannt. Es dürften aber erst wenige sein – «ein paar Dutzend», schätzt Jochen Weichbrodt, zumal man immer wieder von den gleichen Beispielen höre.
International sieht es anders aus. Weltkonzerne wie Unilever und Panasonic kennen das Konzept. In Belgien ist seit Januar 2022 das Recht auf einen dritten freien Tag gesetzlich verankert, in Spanien läuft eine offizielle Testphase. Und in Island wurde die Wochenarbeitszeit in unterschiedlichen Branchen auf 35 Stunden gekürzt. Vorangegangen war ein gross angelegter Pilotversuch, anhand dessen gezeigt werden konnte, dass die Verwaltungen und Betriebe gleich produktiv waren wie vorher.
«Wir sollten uns durchaus die Frage stellen, ob wir so viel arbeiten müssen.»
Was heisst das für die Schweiz, wo laut Eurostat-Daten durchschnittlich mehr gearbeitet wird als in anderen Ländern? «Wir sollten uns angesichts der Resultate in Island durchaus die Frage stellen, ob wir so viel arbeiten müssen. Andere Arbeitsformen sind möglich, ohne dass gleich die Volkswirtschaft leidet», sagt Organisationspsychologe Johann Weichbrodt. Dafür seien aber eigene Pilotversuche notwendig.
Wie jener des Ehepaars Cappilli. Es hofft, dass andere Coiffeure nachziehen werden, damit der Beruf mittelfristig wieder an Attraktivität gewinnt. Graziano Cappilli: «Wie das geht, lässt sich auf unserer Website haargenau nachlesen und -rechnen.»
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