Interview über USA und China«Der neue kalte Krieg wird Jahrzehnte dauern»
Der Westen muss neu definieren, wie er sich gegenüber China verhalten soll. Die Unternehmen seien darauf nicht vorbereitet, sagt Paul Tucker, Wissenschaftler in Harvard, Verwaltungsrat von Swiss Re und Buchautor.
Vor wenigen Tagen warf Chinas Präsident den USA vor, seinem Land zu schaden, der Westen habe China «rundum abgeschottet, eingekreist und unterdrückt». Der Aussenminister warnte, China müsse «zurückschlagen», wenn die USA damit nicht aufhörten. Haben Sie Verständnis dafür?
Der chinesische Stil ist oft ziemlich scharf. Ich denke, dass wir im Laufe der Zeit noch mehr solche Äusserungen hören werden. Das ist ein Stil, den sie gegenüber ihren asiatischen Nachbarn, einschliesslich Australien und Neuseeland, schon früher an den Tag gelegt haben. Auch sie sollten eine Eskalation vermeiden.
In Ihrem Buch beschreiben Sie vier mögliche Szenarien: Fortbestand des Status quo, Kampf der Supermächte, ein neuer kalter Krieg und eine neue Weltordnung. Der Status quo scheint nicht mehr möglich. Stecken wir in einem neuen kalten Krieg?
Wir befinden uns zwischen dem Kampf der Supermächte und einem neuen kalten Krieg. Das äussert sich darin, dass sich beide Seiten ein wenig voneinander zurückziehen, um eine übermässige Abhängigkeit zu vermeiden. Andererseits ist der Ukraine-Krieg in gewisser Weise der erste Stellvertreterkrieg. Denn es wäre für Putin schwierig, diesen Krieg zu führen ohne Zustimmung Pekings.
Unterstützt China den Krieg?
Wer weiss, ob China Russland im Stillen hilft oder nicht? Ich weiss es nicht. Aber es gibt zumindest eine stillschweigende Unterstützung, und ich denke, das ist sehr bedeutsam, denn ohne sie wäre es schwierig für Putin, weiterzumachen. Das ist eine Art blasse Version des alten kalten Krieges.
«Ich glaube nicht, dass der Westen irgendetwas tun kann, um das Wachstum Chinas auf Dauer zu bremsen.»
In Europa gibt es Stimmen, die die Dominanz der USA beklagen und dem Aufstieg Chinas deshalb eher positiv gegenüberstehen. Sie vertreten in Ihrem Buch eine andere Position. Was ist so speziell an China?
Es ist eine völlig andere Ideologie. Sie steht im Widerspruch zu den Dingen, die unsere Lebensweise prägen. Im Jahr 2013 sickerte ein vertrauliches Strategiepapier der Kommunistischen Partei durch, das Dokument 9, das viel zu wenig bekannt ist. Es lehnt alles ab, was uns lieb und teuer ist: nicht nur die Demokratie, sondern auch die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte, die Pressefreiheit, die offene Debatte. Es verbietet den Chinesen, liberale Werte zu fördern oder auch nur über sie zu diskutieren. Als die USA Grossbritannien als führende Weltmacht ablösten, war das für die Menschen in London zweifellos irritierend, vielleicht ärgerlich, aber mehr nicht. Sie schwächte Grossbritannien, bedrohte es aber nicht.
Das ist mit China anders. Warum?
Wir sollten uns die Frage stellen: Wenn sie einige ihrer eigenen Leute so behandeln, wie sie die Uiguren behandeln, wie würden sie dann uns behandeln, wenn sie es könnten? Wir kennen die Antwort nicht.
Ist es klug, Chinas Entwicklung bremsen zu wollen, wie das die USA versuchen?
Ich glaube nicht, dass der Westen irgendetwas tun kann, um das Wachstum Chinas auf Dauer zu bremsen. Okay, vielleicht ein bisschen, aber nicht in nennenswertem Umfang. China ist riesig, hat viele Menschen, ein sehr grosses Humankapital und eine aussergewöhnliche zivilisatorische Geschichte.
Manche Fachleute sehen grosse Probleme auf China zukommen, wegen der schrumpfenden Bevölkerung oder der Immobilienkrise.
Das mag durchaus sein. Aber das wird ihre Kraft oder ihren Aufschwung nicht aufhalten, also würde ich nicht alles darauf setzen wollen.
Der alte kalte Krieg dauerte Jahrzehnte. Wie sieht es mit dem neuen aus?
Ich denke, er wird noch Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert andauern. Solange sich das chinesische Regime nicht ändert oder die Vereinigten Staaten sich nicht auflösen, sehe ich keinen Grund, warum es nicht einfach so weitergehen sollte.
Wie also sollte der Westen mit einer Macht umgehen, die unsere Werte ablehnt?
Wir sollten drei unterschiedliche Dinge tun. Zuerst sollten wir übermässige Abhängigkeiten von China vermeiden. Zweitens sollten wir Freundschaften pflegen und Verbündete suchen. Und drittens sollten wir unsere innenpolitischen Probleme lösen.
Wie vermeiden wir Abhängigkeiten?
Der Westen muss vermeiden, sich verwundbar zu machen. Und ich denke, China sollte die gleiche Politik gegenüber dem Westen verfolgen. Auf diese Weise kann sich keine Seite beschweren.
Die Schweiz versucht, neutral zu bleiben und sich so wenig wie möglich einzumischen. Gleichzeitig sollen die Unternehmen mit allen Regimes Geschäfte machen können. Ist das eine legitime Position?
Es ist eine Frage für Schweizerinnen und Schweizer. Man kann die Frage auch andersherum stellen: Wollen wir Regierungen, die wie eine Art Moralpolizei darüber wachen, wo Unternehmen Geschäfte machen können und wo nicht? Wo ziehen wir die Grenze? Ich denke, die westlichen Mächte können sie dort ziehen, wo Sicherheit und Stabilität bedroht sind.
Exportkontrollen für sicherheitsrelevante Technologien sind also sinnvoll?
Ja, und Importkontrollen. Das Wichtigste ist, dass Sie zum Beispiel Teile Ihrer Flugzeuge nicht von Leuten herstellen lassen, mit denen Sie, Gott steh uns bei, im Krieg sind. Aber es gibt noch viele andere Bereiche, die unsere Sicherheitsinteressen nicht tangieren, und dort kann die Zusammenarbeit gedeihen.
Sie sind Verwaltungsrat beim Rückversicherer Swiss Re, für den China ein wichtiger Markt ist. Wie beurteilen Sie die Risiken, wenn sich das Verhältnis zwischen den USA und China weiter verschlechtert?
Ich spreche keineswegs für Swiss Re.
Das Problem der Abhängigkeit von China stellt sich für viele Unternehmen. Wird es möglich sein, in beiden Machtblöcken Geschäfte zu machen?
Ja, das hoffe ich. Im Zeitlupentempo fördern Handelsbeziehungen die Verständigung und vermindern das Risiko von Feindseligkeiten, aber sie beseitigen es nicht. Ich will also keine Deglobalisierung.
«Ich befürchte, dass zu viele Führungskräfte multinationaler Unternehmen psychologisch nicht darauf vorbereitet sind, was geschehen könnte.»
Was ist, wenn sich die Spannungen weiter verschärfen?
Ich befürchte, dass multinationale Unternehmen Schwierigkeiten haben werden, damit umzugehen. Die chinesische und die westliche Wirtschaft sind heute sehr stark integriert. Es ist vergleichbar mit der deutschen und der britischen Wirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Das verursachte grosse Unruhen und Verwirrung in der Geschäftswelt der Londoner City, weil die Verbindungen so eng waren.
So etwas könnte wieder passieren?
Ich will damit nicht sagen, dass die Zukunft so sein wird wie die Vergangenheit. Aber ich befürchte, dass zu viele Führungskräfte multinationaler Unternehmen psychologisch nicht darauf vorbereitet sind, was geschehen könnte. Dass sie eine Entscheidung treffen müssen oder dass ihnen eine Entscheidung aufgezwungen wird. Deshalb ist es wichtig, dass wir gegenüber China eine nuancierte Politik verfolgen, wie ich es in meinem Buch artikuliere. Wir wollen Handel, aber keinen Handel mit gefährlicher Technologie.
Können Länder wie die Schweiz zwischen den beiden Blöcken manövrieren, ohne zerrieben zu werden?
Die USA und die EU werden koordinieren müssen, welche Technologien gehandelt werden können und welche nicht. Ich denke, dass Länder wie das Vereinigte Königreich oder die Schweiz in einem solchen System zurechtkommen können. Beide sind sehr wichtige Volkswirtschaften. Sie könnten den USA und der EU folgen oder sogar mit am Tisch sitzen, wenn es einen Koordinierungsmechanismus dafür gibt.
«Wir sollten eng mit den Ländern zusammenarbeiten, mit denen wir gemeinsame Werte teilen und die wir nicht fürchten.»
Wo sollte der Westen Freundschaften und Verbündete suchen?
Wir sollten eng mit den Ländern zusammenarbeiten, mit denen wir gemeinsame Werte teilen und die wir nicht fürchten. Ich denke dabei an Südasien, Afrika und Lateinamerika, aber auch an Ostasien. Dies ist nicht der Zeitpunkt für die Vereinigten Staaten und Europa, sich aus Freundschaften zurückzuziehen. Wir sollten auch nicht erwarten, dass diese Länder alle so werden wie der Westen. Jedes Land hat seine eigene Geschichte und Kultur und muss seinen eigenen Weg finden.
Die Beschlagnahmung der Reserven der russischen Zentralbank als Reaktion auf den Ukraine-Krieg könnte viele Länder davon abhalten, sich zu eng an die USA zu binden. Ist der Westen zu weit gegangen?
Ich glaube nicht, dass man mit Sanktionen zu weit gegangen ist. Aber mit dem Einsatz des Dollar als Waffe muss man sehr vorsichtig sein. Es verstärkt die Entschlossenheit anderer Länder, sich dem Einsatz des Dollar zu entziehen. Das wäre für unser System ein grosses Problem.
Warum?
Es würde Washintons Sicherheitsschirm, auf den wir uns verlassen, für sie teurer machen. Ein Schlüssel sind die Öl produzierenden Länder im Nahen Osten. Wenn sie das Lager wechseln und zur Fakturierung in Renminbi übergehen, wird das den Westen schwächen.
Ihr dritter Ratschlag lautet, im eigenen Land keine Fehler zu machen. Woran denken Sie dabei?
Wir haben politische und wirtschaftliche Probleme. Derzeit werden sie durch die Inflation noch verschärft.
Wir befinden uns jetzt wieder in einer Ära hoher Inflation. Glauben Sie, dass die Zentralbanken den Faden verloren haben?
Ein bisschen, ja.
Sie standen lange Zeit an der Spitze der Bank of England und waren damit für die Kontrolle der Inflation zuständig. Bedauern Sie, dass Sie nicht mehr am Ruder sind?
Nein. Es ist eine wunderbare Aufgabe, Zentralbanker zu sein, und ich habe das 33 Jahre lang gemacht. Aber ich bin sehr glücklich mit meiner zweiten Karriere.
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