Historischer WendepunktJetzt beginnt China zu schrumpfen – und das hat Folgen
Über Jahrzehnte zum Milliarden-Volk angewachsen, meldet Peking heute erstmals eine sinkende Bevölkerungszahl. Für Experten ist das eine Zeitbombe, die Auswirkungen werden «gravierend» sein.
Eine ganze Generation ist im Glauben aufgewachsen, dass China mit seinem Bevölkerungswachstum die Menschheit vor riesige Probleme stellen wird. Die Kommunistische Partei versuchte den Trend mit der «Ein-Kind-Politik» zu brechen. Doch die Folgen waren anders als geplant: Die chinesische Geburtenrate sinkt seit Jahren – deutlich schneller, als es Experten prognostiziert haben.
Nun ist Chinas Bevölkerung im vergangenen Jahr erstmals seit sechs Jahrzehnten geschrumpft. Ende Dezember habe das bevölkerungsreichste Land der Welt 1,411 Milliarden Einwohner gehabt und damit rund 850’000 weniger als ein Jahr zuvor, teilte das Statistikamt in Peking am Dienstag mit. Fachleute sprechen von einem «Wendepunkt» in Chinas Geschichte und warnen vor verheerenden Folgen einer «unvorstellbaren» Bevölkerungskrise.
«Chinas demografische und wirtschaftliche Aussichten sind düsterer als erwartet», meint der US-Sozialwissenschaftler Yi Fuxian von der Universität von Wisconsin. «China wird eine Schrumpfung durchlaufen müssen.» Auch müsse es seine Sozial- und Wirtschaftspolitik ändern. Auf den Überschuss an Werktätigen, der Chinas Wirtschaftswunder als «Werkbank der Welt» angekurbelt hatte, folgt jetzt Arbeitskräftemangel: «Chinas Produktionssektor wird unterbesetzt und überaltern – und so schnell abnehmen wie der Japans», so Yi Fuxian.
Es war der erste Bevölkerungsrückgang seit 1960 und 1961, berichtete das Statistikamt, ohne die Zahlen gesondert zu kommentieren. Damals waren in den verheerenden Hungersnöten als Folge der irregeleiteten Industrialisierungskampagne des «Grossen Sprungs nach vorn» von Mao Tsetung viele Millionen Menschen ums Leben gekommen.
Die Geburtenrate lag im vergangenen Jahr nur noch bei 6,77 Neugeborenen auf 1000 Menschen – ein historischer Tiefpunkt. Erstmals in der Geschichte der Volksrepublik lag die Zahl der Geburten unter 10 Millionen. Nur 9,56 Millionen Babys wurden geboren, während 10,41 Millionen Menschen gestorben sind, wie das Statistikamt berichtete.
Diesmal ist der Trend unumkehrbar
Der unabhängige Forscher Yi Fuxian, der seit langem die chinesische Bevölkerungsentwicklung kritisch verfolgt, hält auch die jetzigen Zahlen unverändert für geschönt. Nach seinen Berechnungen schrumpft die chinesische Bevölkerung sogar schon seit vier Jahren. Immerhin sieht er ein offizielles Eingeständnis, dass der Rückgang rund zehn Jahre früher eingetreten ist als bisher von der Regierung vorhergesagt. Anders als bei den Hungersnöten 1960 und 1961 sei der Trend jetzt allerdings «unumkehrbar», meint Yi Fuxian.
Unaufhaltsam gehen seit Jahren die Geburten zurück, während die Gesellschaft überaltert. Die Auswirkungen der seit 1979 verfolgten «Ein-Kind-Politik» werden immer spürbarer. Die Aufhebung der umstrittenen Geburtenkontrolle führte 2016 nur kurzzeitig zu einem leichten Anstieg der Geburten. Nur ein Kind zu haben, ist in China heute die soziale Norm. Zwei Generationen haben es nie anders erlebt, so dass es tief in der Gesellschaft verankert ist.
Daneben sehen Experten die hohen Kosten für Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung in China sowie die schwindende Bereitschaft zur Heirat als wesentliche Gründe für die beunruhigende Entwicklung. Die seit drei Jahren andauernde Corona-Pandemie und hohe Arbeitslosigkeit gerade unter jungen Menschen schufen weitere Unsicherheiten, die den Trend noch beschleunigt haben dürften. Knapp jeder fünfte junge Mensch zwischen 16 und 24 Jahren ist in Chinas Städten ohne Job.
«Die Entwicklung wird sich nach Covid fortsetzen und vielleicht noch verschlimmern», sagt Yue Su, Chefökonomin der Economist Intelligence Unit in London zur BBC. «Die hohe Jugendarbeitslosigkeit und schwache Einkommenserwartungen könnten Heirats- und Geburtspläne weiter verzögern und die Zahl der Neugeborenen nach unten ziehen.»
Bereits 20 Prozent sind über 60
Als Reaktion auf den Geburtenrückgang und die rapide Überalterung wurden 2021 auch drei Kinder erlaubt. Ausserdem bemüht sich die Regierung seither, es jungen Paaren leichter zu machen, für Kinder zu sorgen. Die Kosten für Kindergärten und Schulbildung wurden gesenkt. Finanzhilfen wurden gewährt, Mutterschafts- und Elternurlaub erleichtert.
So hat zum Beispiel die Stadt Shenzhen letzte Woche finanzielle Anreize angekündigt, die sich für eine Familie mit drei Kindern auf insgesamt 37.500 Yuan (5125 Franken) belaufen. Viele Frauen befürchten aber, dass sich eine Mutterschaft negativ auf ihre berufliche Karriere auswirkt.
Die Folgen der Bevölkerungskrise für die zweitgrösste Volkswirtschaft sind enorm. Schon länger müssen immer weniger Werktätige immer mehr alte Leute versorgen. Jeder fünfte Chinese ist heute älter als 60 Jahre. Unterstützten 2020 fünf Beschäftigte zwischen 20 und 64 Jahren einen älteren Menschen über 65 Jahre, werden es 2050 nur noch 1,5 Arbeitnehmer sein. «Ohne soziales Netz, ohne die Sicherheit der Familie wird sich eine Rentenkrise zu einer humanitären Katastrophe entwickeln», warnt Forscher Yi Fuxian.
Weniger alarmistisch ist Paul Cheung, Singapurs ehemaliger Chefstatistiker. Er sagt, China habe «viel Personal» und «viel Vorlaufzeit», um die demografische Herausforderung zu bewältigen. Aber: «Die chinesische Regierung muss das Problem angehen.»
China ist schon lange das bevölkerungsreichste Land der Erde, es wird aber erwartet, dass es bald von Indien überholt wird. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass dies noch in diesem Jahr geschieht. Doch auch der Subkontinent, wird in absehbarer Zeit von einem Rückgang betroffen sein – genauso wie über 40 Prozent aller Staaten weltweit. Während die Länder in Asien und Europa auf lange Sicht schrumpfen und an Einfluss verlieren, wird sich die Bevölkerung Afrikas beinahe verdreifachen – und an Bedeutung gewinnen.
(Mit Material der SDA)
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