Chinas 3-Kind-PolitikViele sind nicht bereit, mehr Kinder zu kriegen
Wenn es nach der chinesischen Regierung geht, sollen Familien im Land künftig zwei oder drei Kinder bekommen. Doch die meisten Chinesen haben gar kein Interesse, zu gross sind Stress und Arbeitsdruck. Nun regt sich Widerstand.
Wenige Tage bevor die chinesische Regierung Anfang Juni die Beschränkung auf zwei Kinder pro Familie aufhebt, zensiert sie zwei Zeichen im Netz. Tang Ping, auf Deutsch «sich flach hinlegen». Tausendfach ist der Begriff zuvor in den sozialen Medien von jungen Menschen geteilt worden. Hat das eine etwas mit dem anderen zu tun?
Erfinder der Wortschöpfung ist wohl ein Internetnutzer, der, wie er selbst schrieb, seit zwei Jahren arbeitslos ist. So weit, so normal. Das Aussergewöhnliche: Er empfinde seine Arbeitslosigkeit nicht mehr als problematisch, schreibt er. Anstatt weiter zu versuchen, den Idealen der chinesischen Gesellschaft gerecht zu werden, dem Leistungsdruck und den Erwartungen anderer, habe er sich zum «Flachhinlegen» entschieden. Da es in China nie eine Philosophie gegeben habe, die die Wünsche der Menschen ins Zentrum rücke, erschaffe er nun eine für sich selbst. «Sich flach hinlegen» sei seine Bewegung. Nur dadurch könnten Menschen das Mass aller Dinge werden.
Kritik am Dauerkonsum
Das Ganze kam ins Rollen. Schnell gründeten sich Gruppen in den sozialen Medien, die seine neue «Philosophie» diskutierten. Demnach solle Geld nicht mehr mit Glück gleichgesetzt oder versucht werden, Fehler durch ständige Selbstoptimierung zu vermeiden. Viele «Flachhinleger» betonen auch, nicht mehr so viel arbeiten zu wollen. Einige verstehen ihre Haltung auch als Kritik am Dauerkonsum. Nicht mehr den vielen Erwartungen nacheifern, dem Druck durch Familie und Arbeit entfliehen: Neu ist diese Debatte in der chinesischen Gesellschaft nicht. Besonders in der Netzkultur spielen die Themen seit langem eine Rolle, sehr beliebt sind zum Beispiel die Bewegbildchen der japanischen Cartoon-Figur Gudetama – ein dauerdeprimiertes Ei, das mal traurig in einer Pfanne vor sich hin schmort und mal bekümmert unter einem Stück Schinken liegt.
Sicher ist auf jeden Fall eins: Die Vorstellung der chinesischen Regierung, dass Familien nun nicht nur ein, sondern sogar gleich zwei oder drei Kinder kriegen sollen, wie sie jetzt verkündete, hat wenig mit der realen Lebenswelt der meisten jungen Menschen im Land zu tun.
«Seid ihr bereit, mehr Kinder zu kriegen?», fragte etwa die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua nach der Lockerung der Geburtenkontrolle in einer Umfrage in dem sozialen Netzwerk Weibo. In kurzer Zeit antworteten 30’000 Teilnehmer. 9 von 10 erklärten, «niemals daran zu denken», weitere Kinder zu bekommen. Kurz darauf wurde die Umfrage gelöscht.
Junge Studierende fühlen sich ausgebrannt und überarbeitet, gefangen in einem ewigen Kampf um Status und Anerkennung.
Tang Ping ist also die Antwort vieler Menschen, einer zunehmend desillusionierten jungen Generation und Mittelschicht, die sich mit immer weiter steigenden Lebenshaltungskosten und Wohnungspreisen konfrontiert sieht, während die Löhne längst stagnieren.
Im vergangenen Frühjahr tauschten sich junge Studierende in einem Blog unter dem Titel «985 Müll» über ihren Unialltag aus. Sie fühlten sich ausgebrannt und überarbeitet, gefangen in einem ewigen Kampf um Status und Anerkennung. Ein Kampf, der am Ende doch keine Sieger kenne. Die Zahl 985 steht für ein Konsortium chinesischer Eliteuniversitäten, vergleichbar mit der Ivy League in den USA.
Und selbst wer erfolgreich ist im harten Bildungswettbewerb, auf den wartet danach nur die nächste Kraftprobe. 996 nennen sich die Bürozeiten, wie sie von vielen chinesischen Firmen praktiziert werden, besonders in Chinas Techwelt: von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, 6 Tage die Woche. Während viele Mitarbeiter anfangs noch stolz waren, bei einem Unternehmen mit einer solchen Arbeitsmoral zu arbeiten, ist der Begriff heute eher ironisch gemeint. Aus 996 ist 007 geworden: 24 Stunden am Tag arbeiten, an 7 Tagen die Woche. Durch das Handy immer erreichbar, nie richtig frei.
In den Tod gesprungen
Im Januar brach eine Mitarbeiterin des Onlinehändlers Pinduoduo nach einem Arbeitstag tot zusammen, anscheinend überarbeitet und entkräftet. Sie war Mitte 20. Wie so häufig hatte sie mit Kollegen bis tief in die Nacht an einem Projekt gearbeitet. Zwei Wochen später sprang ein junger Mann derselben Firma in den Tod. Kurz zuvor hatte Pinduoduo ihn für seine Kritik an der 996-Kultur gefeuert. Auf einem offiziellen Account in den sozialen Medien postete das Unternehmen den Kommentar: «Wer hat sein Leben nicht eingetauscht gegen Geld?»
Und noch so ein Beispiel: Während die Mittelschicht in den Glastürmen bis spät in der Nacht arbeitet, bringen ihnen Lieferboten ihren Kaffee, das Mittag- und Abendessen bis ins Büro. Viele von ihnen sind Wanderarbeiter, 20 bis 30 Jahre alt. Permanent werden sie überwacht: Kam die Lieferung rechtzeitig an? Wie viele Lieferungen wurden heute ausgeliefert? Geht da nicht mehr? Viele ältere Wanderarbeiter haben die Metropolen längst verlassen, weil sie sich das Leben dort nicht mehr leisten können.
Demografische Notlage
Auch wenn die Behörden nach Fällen wie bei Pinduoduo immer wieder Untersuchungen einleiten und an Firmen appellieren, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu schützen, hat sich bisher wenig geändert. Wer etwas erreichen wolle, müsse sich an das Tempo anpassen, das ist die Botschaft vieler Firmen. Ganz ungewollt ist sie auch vom Staat nicht.
Und damit zurück zu den «Flachliegern». Als sich die ersten outeten, reagierten die Staatsmedien schnell. Die Agentur Xinhua bescheinigte den jungen Menschen eine «negative Haltung gegenüber dem Leben». Sie sollten lieber zuversichtlich in die Zukunft blicken. In einem Video behauptete die Agentur, viele Chinesen hielten die Haltung schlicht für Faulheit. Für die chinesische Regierung ist die Debatte ein Problem. Denn durch die demografische Notlage wird die Zahl an Arbeitern im Land noch weiter sinken. Der Beitrag vom ersten «Flachlieger» Chinas wurde bereits gelöscht. In vielen sozialen Netzwerken lässt sich auch der Begriff Tang Ping nicht mehr finden.
Fehler gefunden?Jetzt melden.