Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und Fragen«Der Krieg hat mir meine Kindheit geraubt»
In Trauercamps verarbeiten ukrainische Kinder und Jugendliche die Schrecken, die sie in ihrem Land erleben. Ihre Erzählungen zeigen ihre Sicht auf den Krieg.
Sie sind nicht verantwortlich für den Krieg und werden doch ihr gesamtes Leben die seelischen oder physischen Folgen davon mittragen: Kinder und Jugendliche, die in der Ukraine leben und dort aufgewachsen sind. Die vor den Gefahren des Krieges flüchten mussten oder diesen immer noch täglich ausgesetzt sind.
Bis Mai 2023 wurden im Krieg in der Ukraine mindestens 1500 Kinder verletzt oder getötet. Fast 20’000 Kinder wurden nach Angaben der ukrainischen Behörden bislang nach Russland verschleppt. Während einige gerettet und in die Ukraine zurückgeholt wurden, werden derzeit nach offiziellen ukrainischen Angaben immer noch mindestens 1000 Kinder vermisst.
Viele können nicht mehr in die Schule, trauern um verstorbene Familienmitglieder oder sind in ständiger Sorge um ihre Väter und Brüder, die an der Front kämpfen. Gemäss einem Bericht der Unicef vom vergangenen Februar sind schätzungsweise 1,5 Millionen Kinder in der Ukraine von Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Problemen bedroht, «mit möglichen langfristigen Auswirkungen und Folgen».
Therapie in Trauercamps
Ein Ort, in dem ukrainische Kinder dem Schrecken des Alltags im Krieg für kurze Zeit entfliehen können, sind sogenannte Trauercamps oder Erholungscamps. Diese Ferienlager werden von verschiedenen Hilfsorganisationen angeboten und bieten ukrainischen Kindern ein geschütztes Setting, in dem sie mit anderen während zwei Wochen spielen können und therapeutisch betreut werden.
Die «New York Times» hat ein solches Camp im Westen der Ukraine besucht und mit den Kindern und Jugendlichen über das Erlebte gesprochen. Alle Interviewten haben ihren Vater im Krieg verloren. Ihre Aussagen zeigen die Sicht auf den Krieg aus Kindersicht und ihren Umgang mit Wut, Verlust und Ängsten.
Im Camp nimmt etwa Lisa aus Kiew teil: «Wir führten ein wunderbares normales Leben. Wir sparten Geld und machten Pläne – und plötzlich ist es passiert», erzählt die 13-Jährige. Vor etwas mehr als einem halben Jahr sei ihr Vater als Soldat an der Front gestorben. «Bis heute war ich nicht einmal an seinem Grab, ich kann es einfach nicht.» Im Krieg habe er sich einen Bart wachsen lassen, wie viele Soldaten: «Ich habe ihm damals gesagt, dass er mir nicht gefällt. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich ihm sagen, dass ich ihn mochte, dass ich ihn sehr schön fand.»
Lisa gewährte auch Einblicke in ihre Therapiestunde: Dort erzählt sie ihrer Therapeutin, dass sie von ihrer Mutter nicht die Unterstützung erhält, die sie bräuchte, weil ihre Mutter «ihre eigenen Schmerzen» habe: «Wenn ich Schwäche zeige, wird es für meine Mutter noch schlimmer. Und das ist der Grund, weshalb alle denken, dass es mir gut geht.»
«Mir tun sogar die Russen leid»
Auch Vlad (16) hat seinen Vater im Krieg verloren. Er habe trotzdem auch Mitgefühl für den Feind: «Mir tun sogar die Russen leid. Sie haben schliesslich auch Kinder, die es nicht verdienen, ihre Väter zu verlieren.» Im letzten Gespräch, dass er mit seinem Vater führte, sagte er ihm, er solle gut auf seine Mutter aufpassen: «Vielleicht findet sie eines Tages wieder einen Ehemann.»
Und Hanna beschreibt im Gespräch mit der «New York Times» den «Hurrikan», den sie in der Seele habe: «Als mein Vater an der Front starb, wollte ich dorthin gehen, einen russischen Soldaten nehmen und ihn foltern. Genau so, wie sie meinen Vater gefoltert hatten.»
Im letzten Gespräch mit seinem Vater habe dieser ihm «viel Glück» gewünscht, erzählt ein Junge im frühen Jugendalter, und fügt an: «Der Krieg hat mir meine Kindheit geraubt.» Und ein anderer Knabe sagt, der Krieg werde irgendwann enden, «doch mein Vater wird nicht zurückkehren».
Krieg sei eine Verschwendung
Auf die Frage des Journalisten, was Krieg für sie bedeute, haben die Kinder und Jugendlichen unterschiedliche Antworten: «Es ist das Böse. Krieg ist Tod», sagt ein Junge. Für ein Mädchen bedeute es, «wenn Fremde dein Haus betreten und sagen, dass du jetzt aus deinem Zuhause verschwinden musst».
«Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, Krieg bedeutet, wenn Politiker sich missverstehen und deswegen Leute sterben», sagt ein weiterer Junge, der kaum älter als zehn ist. Für den 16-jährigen Vlad bedeutet Krieg «Verschwendung»: «Eine Verschwendung von Zeit, Verschwendung von Leben, eine Verschwendung von allem. Ich weiss nicht, wofür.»
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