Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und FragenWie zwei ukrainische Teenager von Russen verfolgt wurden – und dabei starben
Wegen ihrer proukrainischen Haltung waren Mykyta Khanhanov und Tigran Ohannisian über Monate Opfer von russischen Repressionen. Die Umstände zu ihrem Tod werfen Fragen auf.
«Okay, das ist das Ende, Leute. Lebt wohl! Ruhm der Ukraine», sagt der Junge mit dem braunen Wuschelkopf in die Kamera. Er hält ein Maschinengewehr, die Hände sind in blutigen Bandagen verbunden. Dann bricht das Video ab.
Die kurze Aufnahme ist das mutmasslich letzte Lebenszeichen von Tigran Ohannisian. Der 16-Jährige und sein Freund Mykyta Khanhanov wurden am 24. Juni in der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk im Süden der Oblast Saporischschja getötet. Die beiden Minderjährigen waren Freunde und haben proukrainische Ansichten geteilt. Und beide wurden von den örtlichen Besatzungsbehörden seit Monaten verfolgt. Sie wurden verhaftet, angeklagt, gefoltert und schikaniert. Der Fall erregte auch beim EU-Parlament Aufsehen, wo man die Freilassung und Übergabe der beiden Jugendlichen in unbesetztes Gebiet forderte.
Die Umstände des Todes der beiden 16-Jährigen sind nicht vollständig geklärt. In den sozialen Medien werden Tigran und Mykyta von Ukrainerinnen und Ukrainern als Helden des Widerstands gefeiert, die den russischen Besatzungsbehörden die Stirn boten. In den vergangenen Tagen wurden immer mehr Details bekannt zu den brutalen Repressionen, denen die Jugendlichen standhalten mussten. Eine Rekonstruktion der Ereignisse.
Schulfreunde und Ukraine-Verteidiger
Laut verschiedenen russischen und ukrainischen Medienberichten gingen Mykyta und Tigran in die gleiche Klasse und waren gut befreundet. Beide wohnten in der von Russland besetzten ukrainischen Stadt Berdjansk. Während Tigrans Familie nach Beginn des Invasionskriegs nach Deutschland flüchtete, blieb der damals 15-Jährige bei seiner Grossmutter.
Beide haben ihre proukrainischen Ansichten nicht versteckt, wie Bewohner und Familienmitglieder der ukrainischen Zeitung «Ukrajinska Prawda» erzählen. «Als der Krieg ausbrach, sagte Tigran, er würde sein Land, seine Grossmutter und seine Stadt nicht verlassen. Er riss russische Flaggen in Berdjansk herunter, trampelte auf ihnen herum und rief ‹Ruhm der Ukraine›», berichtete Yurii Petrenko, Tigrans Onkel.
In der Nacht auf den 30. September des vergangenen Jahres durchsuchten prorussische Sicherheitsbehörden die Wohnung von Tigran, wie Anastasia Panteleyeva, eine Vertreterin der Menschenrechtsorganisation Media Initiative for Human Rights, berichtete. Eine Frau aus einer benachbarten Wohnung sagte der «Ukrajinska Prawda», dass etwa «40 Personen» erschienen seien, darunter russische Soldaten, Mitglieder tschetschenischer Bataillone und FSB-Agenten in Zivil.
Nach seiner Freilassung erzählte Tigran seiner Familie gemäss BBC Russia, dass man ihn gefoltert habe.
Bei der Durchsuchung haben die Behörden laut Panteleyeva Tigrans Grossmutter geschlagen. Als dieser versuchte, dazwischenzugehen, wurde auch er geschlagen. Anschliessend sei dem 16-Jährigen ein Sack über den Kopf gestülpt worden, und man habe ihn mitgenommen. Wie BBC Russia berichtete, wurde Tigran während fünf Tagen im Polizeigebäude von Berdjansk in Haft gehalten – ohne Anklage oder Gerichtsverfahren.
Am 5. Oktober konnte der 16-Jährige das Gefängnis verlassen, unter der Bedingung, dass er sich von nun an jeden Tag bei den Behörden meldet. Nach seiner Freilassung erzählte er seiner Familie gemäss BBC Russia, dass man ihn gefoltert habe. Man habe ihm Elektroschocks zugefügt und auf einem Feld Scheinhinrichtungen durchgeführt.
Kurz nach der Freilassung von Tigran brachten die Behörden auch Mykyta und seinen Vater zur Polizeistation. Dort wurden sie verhört und anschliessend freigelassen – auch unter der Verpflichtung, sich von nun an regelmässig bei den Besatzungsbehörden zu melden.
Gescheiterte Flucht
Danach folgten mehrere Wochen, in denen die Wohnungen der beiden Jungen regelmässig durchsucht wurden. Angehörige vermuten laut BBC Russia, dass Tigran und Mykyta von den Behörden überwacht wurden. Dennoch wurde monatelang keine Anklage gegen sie erhoben – bis zum Dezember 2022.
Dann veröffentlichte die russische Staatsagentur RIA den Bericht, dass zwei Einwohner von Berdjansk «wegen Sabotage an der Eisenbahn» festgenommen worden seien. Dazu wurde ein zweiminütiges Video publiziert, in dem zwei Jungen mit verpixelten Gesichtern ihre Sabotagepläne demonstrierten. Die beiden Jungen wurden als Mykyta und Tigran identifiziert. Tigrans Mutter erklärte später der «Ukrajinska Prawda», dass man den Jugendlichen gesagt habe, sie sollten vor der Kamera gestehen, an den Sabotageakten beteiligt gewesen zu sein. Im Gegenzug haben die Behörden laut der Mutter versprochen, die Jungen freizulassen.
Doch auch nach dem veröffentlichten Video wurde keine Anklage gegen sie erhoben. Dennoch wurden die Hausdurchsuchungen und Vorsprachen bei den Behörden weitergeführt. Tigran wurde schliesslich von seiner Familie aus Deutschland abgeholt: Sie versuchten, mit dem Auto über Russland zu fliehen. Doch in der russischen Stadt Taganrog wurden sie von der Verkehrspolizei angehalten und nach Berdjansk zurückgeschickt.
Die Anklage
Am 24. Mai wurden Tigran und Mykyta offiziell wegen «Sabotage» angeklagt. In der Anklage steht, dass die Jugendlichen «glühende Gegner der russischen Staatspolitik» seien und zur Unterstützung des ukrainischen Militärs die Eisenbahngleise beschädigt hätten, um den Nachschub für die russischen Truppen zu unterbrechen.
Die Anklage wurde auch im Europäischen Parlament thematisiert. In einer Sonderresolution forderte man «die sofortige Einstellung des Verfahrens und die Abweisung aller Anklagen», die «unverzügliche Freilassung» sowie die «sichere Rückkehr» auf von der Ukraine kontrolliertes Gebiet. Man verurteile «das gezielte Angreifen, die Verfolgung und die Folter von Kindern in bewaffneten Konflikten», steht im Dokument.
Die Tötung
Doch zu einer Freilassung kam es nicht. Am 24. Juni, gegen 19 Uhr, begannen soziale Medien in Berdjansk zu berichten, dass in der Nähe des Hafens Schüsse zu hören gewesen seien. Eine Stunde später meldete der Besatzungsbeamte Wladimir Rogow das Gleiche. Kurz darauf gab Rogow bekannt, dass «zwei proukrainische Terroristen eliminiert» worden seien. Bei den beiden Getöteten handelte es sich um Mykyta und Tigran.
Wenig später tauchte auch das Video von Tigran in den sozialen Medien auf, in dem er «Ruhm der Ukraine» wünscht. Der Empfänger des Videos ist nicht bekannt. Auf Social Media wurde der Clip tausendfach geteilt.
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Die Umstände des Todes der beiden sind nicht geklärt. Wie BBC Russia berichtet, griffen nach Angaben der russischen Ermittler Tigran und Mykyta am 24. Juni im Zentrum von Berdjansk einen Polizeibeamten mit einem «scharfen Gegenstand» an und entwendeten seine «Dienstwaffe». Anschliessend sollen sie sich in einem verlassenen Gebäude versteckt haben, nachdem sie drei Menschen verletzt und einen weiteren getötet hatten. «Die Minderjährigen weigerten sich, sich zu ergeben und ihre Waffen abzulegen, was zu ihrer Eliminierung führte», heisst es in der Erklärung.
Die ukrainische Organisation Media Initiative for Human Rights hingegen berichtete, die Jungen seien durch Scharfschützenfeuer getötet worden. Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmitro Lubinez bezeichnete ihren Tod als «aussergerichtliche Hinrichtung von zwei ukrainischen Teenagern». Gleichzeitig wies er darauf hin, dass es verschiedene Theorien über den Hergang des Geschehens gibt.
Eine Version geht davon aus, dass die Jugendlichen bei einer Schiesserei mit den Besatzungstruppen ums Leben kamen, eine andere handelt von «einer Art inszeniertem Vorfall», mit dem die Tatsache vertuscht werden sollte, dass die Teenager in einer Gefängniszelle starben.
«Die Jungen standen unter furchtbarem Druck», sagte Andrii Yakovliev, der Anwalt der Familie von Tigran, der «Ukrajinska Prawda». «Die Untersuchung selbst wurde so geführt, dass die Jungen nicht mit Gerechtigkeit rechnen konnten. Sie konnten sehen, dass sich eine Situation abzeichnete, der sie nicht standhalten konnten.» In den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine gebe es keine unabhängigen Gerichte und Ermittlungen.
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