TribüneDer Geruch von Regen
Joël Perrin, Slam-Poet aus Männedorf, darüber, wie Worte unser Weltbild schaffen.
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Worte sind die Farben der Dichter. Aber nicht nur ihre: Wir alle skizzieren durch Worte, von lautmalerischen Klecksern bis hin zu ganzen Geschichten, unser Bild einer persönlichen Welt. Ein Weltbild, das uns wechselwirkend ebenfalls gestaltet. Mögen wir durch das Leben gezeichnet sein – so sind wir sicher durch Worte gemalt.
Der erste Schritt zum Wort ist die Wahrnehmung: Der Urmensch sah einen Baum und sagte «Baum»; der moderne Mensch sah eine Möglichkeit zur Ad-absurdum-Führung der deutschen Sprache und sagte «Kraftfahrzeug-haftpflichtversicherungsprämienverordnung». Beides zog er damit in sein Weltbild, seine Realität. (Als Gedankenexperiment: Wären Bäume in jeglicher Hinsicht bis heute irrelevant gewesen – wir hätten sie weder erkannt noch benannt, und es gäbe folglich keine Bäume.)
Da wir umgeben sind von benannten Objekten und benennbaren Hirngespinsten, geht ein enorm wichtiger Umkehrschluss oft verloren: Nicht nur ermöglichen Wahrnehmungen Worte – Worte ermöglichen Wahrnehmungen!
Natürlich kann man den Geruch von Regen wertschätzend umschreiben. Aber mit dem griechischen Lehnwort «Petrichor», wörtlich dem Regenblut der Götter, welches auf dem heissen Stein verdampft, erhält die Situation eine andere Sinnlichkeit. «Weltschmerz» und «Fernweh» können wir nur empfinden, weil wir ihnen Namen gegeben haben. Benennen erweist sich als gottgleiches Erschaffen von Sinn und Gedankenführung.
In Worten spiegeln sich gesellschaftliche Werte, im Wortschatz einer Kultur gerinnt deren Essenz: «Yakamoz» ist ein Begriff des Türkischen, welcher im Deutschen nur mit «Widerspiegelung des Mondes im Wasser» umschrieben werden kann. «Oppholdsvaer» bezeichnet im Norwegischen die Wetterlage, unmittelbar nachdem der Regen aufgehört hat – wir mögen uns daran erinnern, aber wann haben wir diese Schönheit zuletzt bewusst wahrgenommen?
Wort-Schatz-Suche heisst Gedankenreisen machen. Und dies ist wiederum ein Sichöffnen gegenüber anderen Reisenden und ihren Welten. Die Angst vor so vielem, auch vor dem Fremden, wurzelt in der oberflächlichen Unbegreifbarkeit fremder Formen der Geschichtenerzählung.
Je grösser das Vokabular, desto sinnlicher die Erfahrungsmöglichkeit, desto weiter der Horizont, desto bunter die Welt. Denn womit will man malen, wenn die Farben fehlen?
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