Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Daten zum Klimawandel
Ist die 1,5-Grad-Grenze schon überschritten?

Ceratoporella nicholsoni, Schwamm.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Die Lebenserwartung eines typischen Menschen auf der Erde mag sich in den vergangenen hundert Jahren mehr als verdoppelt haben auf nun mehr als 70 Jahre; doch für Ceratoporella nicholsoni ist das immer noch ein Witz. Die Schwammart wächst in Höhlen und Riffen im Karibischen Meer und erreicht ein Alter von mehr als 1100 Jahren. Im Tierreich zählt sie somit zu den langlebigeren Organismen.

Damit eignet sich Ceratoporella dazu, über lang andauernde Erdveränderungen wie den Klimawandel Auskunft zu geben – das meint ein Forschungsteam im Fachmagazin «Nature Climate Change». Die Wissenschaftler um den Geochemiker Malcolm McCulloch von der University of Western Australia haben einige Exemplare dieser Lebensform vor Puerto Rico aus dem Meer gefischt und das Wachstum ihrer Skelette analysiert – bis ins Jahr 1700 zurück.

Die Schlüsse, die sie anhand der chemischen Zusammensetzung der Schwämme ziehen – ähnlich wie die Analyse von Jahresringen bei Bäumen –, sind weitreichend: Demnach habe die Erderwärmung bereits etwa Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen, mehrere Jahrzehnte eher als vom Weltklimarat IPCC angenommen. Damit habe sich die Welt zudem bereits stärker erwärmt als gedacht.

Viel näher am 2-Grad-Ziel

Nach dieser Deutung sind die globalen Temperaturen seither um 1,7 Grad angestiegen. Die im Pariser Klimavertrag angestrebte Grenze von 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit wäre somit bereits überschritten. Auch die 2-Grad-Marke sei nah. «Wir denken, dass das 2-Grad-Ziel Ende der 2020er-Jahre überschritten wird», sagt Malcolm McCulloch.

Vorindustrielle Ära: Um diesen Begriff kreist das Argument der Forscher. Auch für den Weltklimarat markiert diese Zeit den Nullpunkt, ab dem berechnet wird, wie stark die Temperaturen sich erhöht haben. Doch wann dieser Startschuss gefallen sein soll, unterscheidet sich in beiden Versionen.

Der Weltklimarat setzt den Mittelwert der Temperaturen zwischen 1850 und 1900 an. Eine «pragmatische Wahl», wie es im jüngsten Sachstandsbericht des IPCC heisst: Landbasierte Wetteraufzeichnungen gibt es zwar schon länger, doch von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an messen auch immer mehr Seeleute die Wassertemperaturen der Ozeane, die immerhin zwei Drittel der Erdkugel bedecken. Damit gebe es erstmals eine systematische globale Messreihe, so der IPCC.

Schwämme widersprechen Aufzeichnungen

Allerdings weisen diese Zahlen Schwächen auf, wie die Forscher um McCulloch sagen. Zum einen gebe es darin unerklärliche Abweichungen, etwa zwischen den Werten über den Kontinenten und jenen aus den Ozeanen. Zum anderen kühlen laut den vom IPCC verwendeten Daten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Meere abrupt ab, während sich die Luft weiter erwärmt. Dafür gebe es «keine plausible Erklärung», meint das Team um McCulloch.

Die karibischen Schwämme liessen dagegen auf einen recht gleichmässigen Anstieg der Temperaturen etwa von 1860 an schliessen. Zudem würden die Schwämme auch Ereignisse wie Vulkanausbrüche registrieren. So führte der Ausbruch des Tambora 1815 in Indonesien zu einer plötzlichen globalen Abkühlung um bis zu 0,2 Grad und zum «Jahr ohne Sommer», was sich laut den Forschern in den Skeletten der Schwämme niederschlägt.

Sechs Organismen – eine Frage

Doch reicht das, um die Geschichte der Erderwärmung neu aufzurollen, zumal die Schlussfolgerungen letztlich auf sechs Organismen aus der Karibik beruhen? «Mich entsetzt an dieser Arbeit die Behauptung, man brauche nur an einen Ort der Welt zu gehen und schon habe man das globale Mittel», sagt Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg und Mitautor des letzten IPCC-Sachstandsberichts. Das sei schlichtweg «unglaubwürdig».

Ein einzelner Ort könne globale Daten nicht ersetzen, meint Gabi Hegerl, Professorin für Klimasystemforschung an der Universität Edinburgh. Die Schwämme würden zwar erhellen, wie sich die Temperaturen in der Karibik während der Industrialisierung erhöht hätten. «Aber die Interpretation in Bezug auf die globalen Klimaziele führt zu weit.»

«Die Veränderungen in Puerto Rico imitieren die globalen Veränderungen», hält Amos Winter dagegen, ein an der Studie beteiligter Ozeanograf von der Indiana State University. In der Karibik liessen sich globale Trends ablesen, denn hier zeigten sich kaum andere Einflüsse wie das Klimaphänomen El Niño. Stattdessen dominierten «atmosphärische Einflüsse» wie der von Kohlendioxid (CO₂) verstärkte Treibhauseffekt.

Doch an diesem Punkt sieht der Umweltforscher Yadvinder Malhi von der University of Oxford eine weitere Schwäche der Studie. Zwar verfeuern Menschen bereits seit etwa dem Jahr 1750 fossile Brennstoffe wie Kohle. Die CO₂-Emissionen daraus seien aber bis 1900 verschwindend gering, etwa 2,5 Prozent aller Emissionen bis zur Gegenwart. «Es ist unwahrscheinlich, dass dies eine wesentliche Erwärmung verursacht hat», sagt Malhi.

1,54 Grad wärmer als zu vorindustriellen Zeiten

So umstritten die Schlussfolgerungen der Schwamm-Studie sind: Zweifel an den Meeresdaten aus dem 19. Jahrhundert kommen auch von anderer Seite. Mitte Januar veröffentlichte eine Forschergruppe der Universität Berkeley eine Analyse zum Jahr 2023. Demnach lag die globale Temperatur im vergangenen Jahr 1,54 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Eine deutlich höhere Schätzung als etwa von der US-Atmosphärenbehörde Noaa, die auf 1,34 Grad kommt.

Die Diskrepanz hat wenig mit Messungen in der Gegenwart, sondern ebenfalls mit der Baseline im 19. Jahrhundert zu tun: Berkeley und andere Gruppen setzen die Startmarke niedriger als die Noaa. Der Grund dafür ist, dass die Forscher verschieden mit den Daten aus dieser Zeit umgehen, die alles andere als perfekt sind.

In der Frühzeit der Klimaforschung liessen Matrosen Eimer zu Wasser und nahmen an Deck die Temperatur. Dabei kann es zu Verdunstungskühlung kommen, was die Messung verzerrt. Selbst das Material des Kübels – Holz, Segeltuch, Metall – hat einen Einfluss. Später gingen Mannschaften dazu über, das Wasser über einen Schlauch zu Thermometern im Maschinenraum zu pumpen. In der Nähe der Kessel kommen aber tendenziell zu hohe Werte heraus. All diese Verzerrungen müssen korrigiert werden, was heutige Klimaforscher unterschiedlich angehen.

Zumindest bei dieser Fehlersuche könnten die Schwämme womöglich helfen. Die Fluktuationen der Meerestemperaturen zwischen 1850 und 1910 «bleiben eine komplexe Herausforderung», meint Duo Chan, Klimaforscher an der University of Southampton. In einer noch unveröffentlichten Studie versucht er, die instrumentellen Daten zu korrigieren. Die Ergebnisse deuteten ebenfalls auf eine Erwärmung der Meere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin, wenngleich auf niedrigerem Niveau als in der Arbeit von McCulloch beschrieben.

IPCC rechnet mit 20-jährigem Mittelwert

In jedem Fall dürfte die Diskussion um ein Überschreiten der 1,5 Grad an Fahrt aufnehmen. Auch wenn man beim bisherigen vorindustriellen Ausgangspunkt bleibt, könnte das um 2030 herum der Fall sein. In einigen Monaten wurden die 1,5 Grad sogar schon übersprungen, etwa 2016, 2017, 2019, 2020 und 2023.

Solche Ausschläge zählen aber nicht als Bruch der Marke, selbst ein wärmeres Einzeljahr würde dafür nicht ausreichen. Der IPCC geht stattdessen von einem 20-jährigen Mittelwert aus. Das bedeutet, dass man das Überschreiten einer Wegmarke erst zehn Jahre später feststellen kann – 2040 liesse sich beispielsweise sagen, dass 2030 die 1,5 Grad übersprungen wurden.

«Damit besteht die Gefahr einer Verzögerung beim Erkennen dieses Punktes und bei der Reaktion darauf», mahnten kürzlich britische Klimatologen in einem Kommentar im Wissenschaftsjournal «Nature». Schliesslich würde es jenseits des Limits verstärkt darum gehen, die Erderwärmung wieder umzukehren, statt nur zu bremsen. Die Meteorologen schlagen deshalb vor, einen Mittelwert um die Gegenwart zu bilden – aus den Temperaturen der vergangenen zehn Jahre und aus Prognosen für die nächsten zehn. So wüsste man sofort, woran man ist.

Auch im Pariser Klimavertrag sei nicht genau festgelegt, wie der aktuelle Grad der Erderwärmung bestimmt werden, schreiben die britischen Forscher. Es brauche aber verbindliche Metriken, sonst werde es keinen Konsens geben, wann die 1,5 Grad erreicht seien. «Dies wird wahrscheinlich zu Ablenkung und Verzögerung führen, gerade zu dem Zeitpunkt, an dem Klimaschutz am dringendsten ist.»