Gründe für Unglück im GotthardDarum merkte der Lokführer nicht, dass er die entgleisten Wagen mitschleifte
Die Schäden im Basistunnel sind schlimmer als angenommen – weil beim Unfallzug ein entscheidendes Teil fehlte. Es stellen sich zudem Fragen für die Passagiersicherheit.
«Der Schaden ist viel grösser als angenommen», sagte SBB-Chef Vincent Ducrot, als er am Mittwochnachmittag neue Informationen über den Güterzug veröffentlichte, der am Donnerstag im Gotthard-Basistunnel verunglückte. Er sprach von «schwerwiegenden Konsequenzen nicht nur für die SBB, sondern auch für die Wirtschaft».
Die Hiobsbotschaft: Es wird bis Anfang nächsten Jahres dauern, bis wieder Züge durch beide Röhren des Gotthard-Basistunnels fahren werden. Diese ist mit jeweils einer eigenen Röhre pro Richtung ausgestattet. (Unser Kommentar zum Thema: Ein Riss im Herzen der Schweiz)
Ab spätestens Mittwoch kommender Woche wird zwar die nicht betroffene östliche Röhre für den Güterverkehr geöffnet sein. Doch der Personenverkehr durch den Gotthard wird gemäss SBB «bis auf weiteres» nur auf der Bergstrecke stattfinden und damit eine Stunde länger in Anspruch nehmen.
Dass Personenzüge durch den Basistunnel fahren, ist im Einröhrenbetrieb im Moment nicht erlaubt, da die Evakuierungsmöglichkeiten nicht gegeben wären. Die SBB wollen beim Bund anklopfen, damit diese Vorschrift vorübergehend ausser Kraft gesetzt wird.
20’000 Betonschwellen kaputt
Doch warum war es möglich, dass am Donnerstagmittag letzter Woche ein schadhafter Wagen acht Kilometer vor der Unfallstelle entgleiste und dann lange mitgeschleift wurde, ohne dass der Lokomotivführer etwas davon merkte? Mit den Angaben der SBB lässt sich dies nun etwas genauer rekonstruieren. Die Reise des Unglückszugs mit total dreissig Wagen begann in Chiasso und hätte in Mannheim enden sollen. Doch mitten im Tunnel entgleisten schliesslich 16 Wagen. Sie befinden sich noch immer im Tunnel, während die nicht entgleisten Wagen abtransportiert wurden.
Der Unfall ereignete sich auf der Höhe der Multifunktionsstelle bei Faido TI. Dort sind unter anderem Weichen installiert, damit die Züge im Tunnel in die jeweils andere Röhre wechseln könnten. Als der Güterzug mit 100 Kilometern pro Stunde über die Weiche fuhr, so der aktuelle Wissensstand, riss ein bereits entgleister Wagen zahlreiche andere mit.
Auf acht Kilometern vor der Multifunktionsstelle gingen die speziell für den Basistunnel erstellten Befestigungsstrukturen der Gleise im Boden kaputt, darunter 20’000 Betonschwellen. Dass deren Massanfertigung länger dauert, ist mit ein Grund, warum die beschädigte westliche Röhre so lange gesperrt sein wird.
Am Unfallort liegen die transportierten Güter weit verstreut herum. Es handelt sich dabei unter anderem um Wasserflaschen, Wein, Bier, Guetzli, Pasta, Tomaten. Hinzu kommen Besteck, Haushaltswaren und keramische Erzeugnisse, Laminat und Eisenstangen.
Die SBB-Spitze legte am Mittwoch Wert darauf, nicht auf Spekulationen über die Unfallursache einzugehen. «Wir basieren unsere Analyse auf Fakten, und die liegen im Moment grösstenteils noch nicht vor», sagte Vincent Ducrot. Bis Verantwortliche und Gründe abschliessend benannt seien, würden wohl Jahre vergehen.
Bisher ist einzig klar, dass die Unfalluntersuchungsstelle des Bundes von einem gebrochenen Rad an einem der Wagen ausgeht. Dieses war am Donnerstagmorgen jedoch weder anlässlich der zwei Untersuchungen der Wagen in Chiasso aufgefallen, noch anlässlich eines Zwischenstopps, den der Zug bei Bellinzona einlegen musste. Ein entgegenkommender Lokführer hatte eine Rauchentwicklung am späteren Unglückszug beobachtet und gemeldet. Bei der Kontrolle stellten die Mechaniker fest, dass eine Bremse festgesessen war. Ein Zusammenhang mit dem Unfall kurz darauf konnte bisher nicht festgestellt werden.
Auch die automatische Zugskontrolleinrichtung vor dem Tunnel entdeckte keinen Defekt am Zug. Allerdings ist diese auch nicht dazu ausgerüstet, allfällige Risse im Rad zu erkennen, die zu einem Radbruch führen können. (Lesen Sie hier unsere Recherche zu dieser Frage.)
«Wir hatten etwas Glück im Unglück. Es gab keinen Personenschaden. An anderer Stelle hätte auch Gravierenderes passieren können.»
Dass die SBB bei der Interpretation des Vorfalls zur Vorsicht mahnen, wird berechtigte Fragen zur Sicherheit auf dem Schweizer Schienennetz allerdings nicht verhindern können.
Eine grundsätzliche betrifft den Zustand des Güterverkehrs: Die Zeitungen von CH-Media hatten am Dienstag über einen Bericht des Bundesamts für Verkehr von 2019 geschrieben, der das Sicherheitsniveau im Güterverkehr kritisierte. Das Amt schreibt, die Lage habe sich seither verbessert. Zudem habe man die Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden intensiviert.
Auf die Frage, was hätte geschehen können, wenn sich der Unfall ausserhalb des Basistunnels ereignet hätte, wollte die SBB-Spitze nicht eingehen. Dann hätte nämlich Gegenverkehr gedroht. Bahnchef Ducrot gab an der Medienkonferenz nur einen Hinweis, dass er sich zumindest mit der Frage beschäftigt hatte: «Wir hatten etwas Glück im Unglück. Es gab keinen Personenschaden. An anderer Stelle hätte auch Gravierenderes passieren können.»
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Eine weitere Frage lautet, ob es im Personenverkehr zu einer ähnlichen Entgleisung kommen könnte. Die Gefahr scheint zumindest bedeutend kleiner zu sein. So kommt es zwar auch vor, dass Personenzüge entgleisen. Das geschah beispielsweise vergangenen April bei zwei Zügen in den Berner Gemeinden Lüscherz und Büren zum Hof aufgrund starker Winde. 15 Personen wurden verletzt.
Da moderne Personenzüge in der Schweiz jedoch in der Regel mit Systemen ausgerüstet sind, die Entgleisungen erkennen, können sie dann nicht weiterfahren. Es kommt dann zur Vollbremsung. In die Wagen des entgleisten Güterzugs im Gotthard war dagegen kein solches System eingebaut, wie die SBB bestätigen. So hatte der Lokführer keine Chance, die Entgleisung zu bemerken. Der Einbau von sogenannten Entgleisungsdetektoren ist in der Schweiz freiwillig, schreibt auch das Bundesamt für Verkehr.
«Der Güterverkehr ist ein dummer Verkehr», sagte Rudolf Büchi von der SBB-Abteilung Infrastruktur. «Die Wagen sind nur mit einer Kupplung und Luftschläuchen verbunden. Wenn die Luftschläuche reissen, kommt der Zug zur Vollbremsung.» Das passierte am Donnerstag, weil der Zug an der Weiche an der Multifunktionsstelle auseinandergerissen wurde.
Stärkere Vorkehrungen beim Chlorgas
Ein Teil der Wagen fuhr auf dem Gleis Richtung Oströhre weiter und schlug dort in das sogenannte Spurwechseltor ein. Dieses trennt die beiden Tunnelröhren luftdicht voneinander ab. Die SBB haben es mittlerweile behelfsmässig ersetzt. Sobald auch die laut Ducrot «zerstörte» Weiche repariert ist, wird die Oströhre wieder befahrbar sein.
Zumindest für den Transport des besonders gefährlichen Chlorgases, das beim Einatmen tödlich sein kann, scheint die Gefahr eines ähnlich dramatischen Unfalls allerdings geringer: Die Sicherheitsvorgaben für spezielle Gefahrengüter sind deutlich strenger als für den klassischen Wagenladungsverkehr, zu dem der nun entgleiste Zug zählt.
Beim Wagenladungsverkehr handelt es sich um Einzelwagen, die von verschiedenen Herkunftsorten stammen und vor der Schweizer Grenze zu einem Zug zusammengesetzt werden. Nach der Grenze werden sie auseinandergekoppelt und führen ihre Reise in anderer Formation fort.
Bis zu einer Regelung dauert es noch lange
Chlorgas wird dagegen «wenn möglich in Ganzzügen» transportiert, schreibt das Bundesamt. In der Schweiz gebe es eine freiwillige Übereinkunft, dass Chlorgas nur in Kesselwagen transportiert wird, die über die Vorschriften des internationalen Gefahrguttransports hinausgehen. «Diese Kesselwagen haben immer Entgleisungsdetektoren.» Drei solcher Kesselwagen, die allerdings keinen Inhalt führten, fuhren letzte Woche am Ende des Unglückszugs durch den Gotthard. Sie entgleisten nicht.
Dass alle Güterzüge mit einem Entgleisungsdetektor ausgerüstet werden, scheint kurzfristig nicht realistisch. «Das wäre die schöne, heile Welt, wenn wie im Personenverkehrswagen auch die Güterwagen mit der Lokomotive kommunizieren würden», sagte Bahnchef Ducrot, verwies jedoch auf die Komplexität eines solchen Vorhabens. Es handle sich dabei nicht um eine rein schweizerische Entscheidung; schliesslich kommt der Grossteil der in der Schweiz verkehrenden Wagen vom Ausland her. «Die Bahnbetriebe und die EU-Kommission arbeiten an Lösungen. Aber bis so etwas eingeführt ist, dauert es noch lange.»
In einer ersten Version des Artikels hiess es, Züge im Personenverkehr seien generell mit Entgleisungsdetektoren ausgerüstet. Das ist nicht korrekt. Gemäss den SBB sind alle neueren Fahrzeuge und somit die Mehrheit der Flotte mit Überwachungsfunktionen ausgerüstet.
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