Kolonialismus-Trauma in GrönlandMit 13 wurde ihr eine Spirale eingesetzt. Sie wollte das nicht, der Staat aber schon
Es war im Sommer 1976, aber die Schmerzen hat Naja Lyberth nie vergessen. Ohne ihre Zustimmung setzten dänische Ärzte ihr eine Spirale ein – wie Tausenden anderen Mädchen in Grönland. Jetzt klagt sie.

Sie erinnert sich noch an den weissen Kittel des Doktors. An die Liege in der Mitte des Raums, dahinter eine Ziegelwand. «Und neben mir stand eine Krankenschwester.» Was sie noch deutlich im Ohr hat: den knappen Befehl, die Unterhose auszuziehen. «Ich musste die Beine spreizen. Dann spürte ich dieses eiskalte Metall in mir. Ich war dreizehn, Jungfrau, ohne jede sexuelle Erfahrung, das Instrument fühlte sich riesig an.»
Naja Lyberth legt die Hände auf ihren Bauch, als könne sie ihn so fast fünfzig Jahre nach dem Eingriff vielleicht doch noch schützen vor dem, was kommen sollte. Die Psychologin sitzt in ihrer Wohnküche in der grönländischen Hauptstadt Nuuk.
«Dann plötzlich dieser wahnsinnige Schmerz. Als hätte ich ein Messer im Unterleib.» Als alles vorbei war, sagte man ihr: «Geh zurück zur Schule.» Sie erinnert sich noch an den langen Rückweg vom Spital in ihr Klassenzimmer. «Allein. Keine Empathie, niemand, der mich begleitet hätte. Dazu ein beissendes Schuldgefühl, so, als hätte ich etwas Schlimmes getan. Es war das grösste Trauma meines Lebens.»
Naja Lyberth spricht für 143 grönländische Frauen
Naja Lyberth weiss, wovon sie spricht, wenn sie das grosse Wort Trauma benutzt: Die 62-Jährige ist ausgebildete Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Traumatherapie. Und sie ist die Sprecherin einer Gruppe von 143 grönländischen Frauen, die den dänischen Staat im März dieses Jahres wegen Menschenrechtsverletzungen verklagt haben. Jeweils 300’000 Kronen, also etwa 37’500 Schweizer Franken, Schadenersatz fordern sie.
Ihnen allen wurden in den Sechziger- oder Siebzigerjahren, ohne ihre Zustimmung und ohne dass ihre Eltern gefragt oder auch nur informiert worden wären, von dänischen Ärzten Spiralen eingesetzt. Man weiss heute von 4500 solchen Eingriffen zwischen 1966 und 1970, was bedeutet, dass damals mindestens die Hälfte aller gebärfähigen grönländischen Mädchen und Frauen aus Inuit-Familien diese Zwangsbehandlung über sich ergehen lassen musste. Einige der Mädchen waren gerade mal zwölf Jahre alt, viele der Betroffenen konnten später nie mehr Kinder bekommen. Die Kampagne wurde bis in die Achtzigerjahre fortgesetzt.
Warum? Und wie kann es sein, dass dieses Verbrechen, das klingt wie aus den dunkelsten Zeiten der Kolonialgeschichte, erst jetzt zur Sprache kommt?
Naja Lyberth ist über das lange Schweigen nicht verwundert: «Traumata gehen fast immer mit Verstummen einher.» Die Tatsache, dass sie selbst inzwischen darüber sprechen kann, schreibt sie ihrer Ausbildung zu. Sie war viele Jahre im psychiatrischen Spital in Nuuk angestellt und arbeitet heute mit Männern, Frauen und Jugendlichen zusammen, die durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit traumatisiert wurden. Erst im geschützten Setting dieser Therapiestunden kam das pochende Gefühl hoch, dass da «etwas tiefgefroren war in mir».
Grönland wurde 1953 zur nördlichsten Provinz Dänemarks
Lyberth führt ihre Hände vor ihrem Schoss zusammen, als würden sie eine unsichtbare Kugel umschliessen. «Eingekapselt», sagt sie. «Tief verdrängt.»
Lyberth wuchs in Maniitsoq auf, einem Fischerdorf, das sich in ihrer Kindheit rasend schnell in eine Kleinstadt verwandelte. Grönland war nach mehr als zweihundertjähriger Kolonialzeit 1953 zur nördlichsten Provinz Dänemarks geworden. Die Regierung in Kopenhagen versuchte damals, die riesige Insel im Nordatlantik möglichst schnell und umfassend zu modernisieren.
Durch die verbesserte Hygiene und die Ausrottung verschiedener Krankheiten sank die Sterberate. Gleichzeitig stieg die Zahl der Lebendgeburten von 1951 bis 1966 um fast achtzig Prozent, von 999 auf 1781 grönländische Kinder.

Die dänische Regierung fürchtete sich vor den vermeintlich zu hohen Kosten, die immer neue Kindergärten und Schulen verursachen würden. Wohlgemerkt, es gab 1963 gerade mal 35’500 Menschen auf Grönland.
Möglichst vielen Frauen soll die Spirale eingesetzt werden
Ausserdem war die Regierung besorgt, weil viele junge Frauen Kinder bekamen, ohne verheiratet zu sein. Das hing unter anderem damit zusammen, dass mit dem Bauboom viele alleinstehende Maurer, Schreiner und Bauarbeiter auf die Insel strömten.
Man kam aber nicht auf die Idee, allen dänischen Facharbeitern vor der Überfahrt nach Grönland den Samenleiter abzuklemmen. Stattdessen beschloss man 1966 in Kopenhagen, möglichst vielen grönländischen Mädchen und Frauen eine Spirale einzusetzen.
Lyberth erinnert sich noch, dass sich an jenem Tag im Sommer 1976 ausnahmslos alle Mädchen ihrer Klasse der Prozedur unterziehen und einzeln ins Spital hochgehen mussten. Die meisten waren vierzehn, sie selbst hatte ein Jahr übersprungen und war dementsprechend jünger.
Die dänischen Ärzte benutzten die sogenannte Lippes Loop, eine schlangenförmige Spirale, Grösse D, eigentlich zur Verwendung für Frauen nach der Geburt eines Kindes. Lyberth hatte nach dem Eingriff jeden Monat extreme Regelschmerzen und sehr starke Blutungen, «die Spirale war viel zu gross für meinen Kinderkörper». Nach dem Eingriff sprach sie mit niemandem darüber, auch nicht mit den Eltern. «Die Scham war zu gross. Bei allen von uns.»
2019 gab es den ersten Artikel in Grönland
2016, während der Ausbildung, kamen dann die Empfindungen und Bilder hoch. Als Lyberth 2017 in ihrer Facebook-Gruppe fragte, ob andere Frauen ähnliche Erfahrungen gemacht hätten, antworteten ihr nach und nach zweihundert Frauen.
Lyberth erzählte einer Journalistin davon, die 2019 darüber in einer grönländischen Zeitschrift schrieb. Es habe fast keine Reaktionen gegeben damals, sagt Lyberth. Zwei Jahre später erschien noch eine Reportage, diesmal im Magazin «Arnanut». Wieder kaum Reaktionen. Bis die Kopenhagener Journalistin Celine Klint abends im Internet zufällig über den Text stolperte.
Ein heller Aufenthaltsraum in den Kopenhagener Gemeinschaftsbüros von DR, dem staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender Dänemarks. Celine Klint hatte gerade Schicht in der Redaktion, jetzt setzt sie sich, im Arm ihren Rechner, in dem sie Hunderte Unterlagen über den Skandal gespeichert hat. Man spürt die Verwunderung der 32-Jährigen, wenn sie sagt: «4500 Fälle, allein zwischen 1966 und 1970, ich konnte es anfangs einfach nicht glauben.»
Klint kontaktierte nach der Lektüre des grönländischen Textes ihre Kollegin Anne Pilegaard Petersen, die beiden fingen an zu recherchieren, vor allem im Nationalarchiv in Kopenhagen. Zur Spiralen-Kampagne fanden sie viel.
Spiralen-Kampagne war kein Geheimnis in Dänemark
Das Ganze war ja seinerzeit gar kein Geheimnis, im Gegenteil, 1970 brüstete sich der damalige Grönlandminister Arnold Normann mit der ausserordentlich erfolgreichen Kampagne im Folketing, dem dänischen Parlament: Man habe es geschafft, die Geburtenrate in Grönland seit Mitte der Sechzigerjahre zu halbieren, und dazu habe «vor allem die Verwendung der Spirale beigetragen».
4500 Fälle. Die so zentrale Zahl hatte Peter Bjerregaard, Professor am dänischen Nationalen Institut für Volksgesundheit, in seiner Doktorarbeit von 1991 erwähnt, in der er den drastischen Rückgang der Geburtenrate in Grönland in den Sechzigerjahren mit der Spiralen-Kampagne in Verbindung brachte. Bjerregaard hatte die Zahl aus dem medizinischen Jahrbuch der Provinz Grönland, das zwischen 1966 und 1970 4500 Eingriffe festhält. Danach hört die systematische Mitschrift auf, Celine Klint und ihre Kollegin fanden aber Zahlen und Listen für einzelne Distrikte bis ins Jahr 1975.
Was klarmacht, dass offenbar weit mehr Frauen betroffen waren als die 4500, die bis dahin bekannt waren. Im Mai 2022 wurde Klints und Petersens Podcast «Spiralkampagnen» veröffentlicht. Diesmal gab es heftige öffentliche Reaktionen.
Dänemark und Grönland gründen Untersuchungskommission
Im August 2022 reiste dann der damalige Gesundheitsminister Magnus Heunicke nach Nuuk und sagte, es sei «aus heutiger Sicht völlig unverständlich und etwas, das man nicht verteidigen kann, was mit den Frauen passiert ist, die damals noch sehr junge Mädchen waren». Die dänische Regierung und das grönländische Parlament beschlossen dann im Oktober 2022 eine Untersuchungskommission, die bis Mai 2025 das genaue Ausmass der Kampagne recherchieren und ausserdem prüfen soll, welche anderen Praktiken zur Schwangerschaftsverhütung von 1960 an von der dänischen Regierung angewandt worden sind.

Mit der Zeit scheinen einige der dänischen Ärzte ohnehin Skrupel bekommen zu haben. Jedenfalls fragten sie 1969 beim damaligen Chefarzt in Grönland, Jørgen Bøggild, an, ob es überhaupt legal sei, junge Mädchen unter achtzehn Jahren ohne Zustimmung ihrer Eltern über Empfängnisverhütung zu beraten. Bøggild sagte daraufhin aber nicht, guter Punkt, lasst uns lieber damit aufhören. Stattdessen schlug er dem Grönland-Ministerium vor, die Gesetzgebung zu ändern, damit weitergemacht werden kann wie bisher. Das Parlament änderte das Gesetz also, Ärzte konnten jetzt Mädchen ab fünfzehn Jahren über Verhütung beraten, ohne die Eltern informieren oder fragen zu müssen.
Naja Lyberth sagt am Schluss des Besuchs, in Nuuk, den Prozess gegen den Staat Dänemark würden sie sowieso gewinnen. Aber sie möchte, dass der Staat den Opfern jetzt schon eine Entschädigung zahlt. «Ich brauche das nicht finanziell. Aber diese ganz konkrete Entschuldigungsgeste ist für viele Frauen wichtig, um endlich ihren Frieden zu finden. Und für einige, die über achtzig sind, drängt die Zeit.»
Der Prozess wird wohl frühestens 2026 beginnen.
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