Millionenverlust oder Mehreinnahmen? Das grosse Rätsel um die wahren Schweizer Steuerausfälle
Was kostet eine Steuererleichterung die Schweiz? Die Frage ist zentral, gerade vor Abstimmungen. Doch ob die Schätzungen eintreffen, rechnet niemand nach. Andere machens besser.
250 Millionen Franken: So hoch beziffert der Bund die Steuerausfälle, wenn an der Volksabstimmung vom 13. Februar nächsten Jahres ein Teil der Stempelsteuer fällt. Doch wir werden wohl nie erfahren, ob diese Schätzung tatsächlich eingetroffen ist.
Es kann auch sein, dass die Ausfälle noch höher ausfallen werden – oder dass umgekehrt sogar Mehreinnahmen resultieren, weil, wie die Befürworter argumentieren, die Wirtschaft angekurbelt wird. Warum dieses Rätselraten? Niemand kontrolliert im Nachhinein, was bei solchen Steuervorlagen nach der Abstimmung wirklich passiert. (Unser Kommentar dazu: Wer nicht hinschaut, macht es sich zu einfach)
Das gilt nicht nur für die Abschaffung der Emissionsabgabe auf Eigenkapital, sondern für alle Steuerreformen. Mit viel Aufwand schaut die Bundesverwaltung jeweils vor der Abstimmung, was es kosten – oder eben bringen – könnte.
Das nennt sich «Ex-ante-Schätzung» und dient als Grundlage für die demokratische Entscheidfindung. Nach der Abstimmung geht man aber zur Tagesordnung über, ohne zu schauen, wie sich die Dinge tatsächlich entwickelt haben.
Komplexe Berechnungen nötig
Diese «Ex-post-Schätzung» wird in der Schweiz grundsätzlich nicht gemacht. Das beschied der Bundesrat 2015 der Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran, die sich per Vorstoss nach den Steuerausfällen durch die Entlastung des Kapitals in den letzten 20 Jahren erkundigt hatte. «Nachdem eine Reform in Kraft getreten ist, wird (...) nicht mehr geschätzt, wie hoch die Steuereinnahmen ohne diese Reform ausfallen würden», heisst es in der Antwort.
Diese Zurückhaltung gilt bis heute – und sie hat ihre Gründe: Nachträgliche Berechnungen sind schwierig. Nachdem eine Steuerreform in Kraft getreten ist, ändern sich in der Regel auch andere Rahmenbedingungen, welche die Wirtschaftsentwicklung und damit auch die Steuereinnahmen beeinflussen.
Es stelle sich unter anderem das Problem, dass man nicht wisse, wie sich die relevanten Grössen für ein Szenario ohne die Steuerreform entwickelt hätten.
Es müssen nicht gleich so einschneidende Änderungen sein wie während der Corona-Pandemie. Auch sonst stelle sich unter anderem das Problem, dass man nicht wisse, wie sich die relevanten Grössen für ein Szenario ohne die Steuerreform entwickelt hätten, sagt Joel Weibel, Sprecher der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Oder die Frage nach den Anpassungseffekten, die eine Reform auslöst.
Um diese zu beantworten, müsste beispielsweise geklärt werden, ob ein Zu- oder Wegzug von Unternehmen auf die Reform zurückzuführen ist. Oder auf ganz andere Faktoren.
«Nach streng wissenschaftlichen Kriterien ist eine Ex-post-Schätzung nicht möglich», sagt Marius Brülhart, Ökonomieprofessor an der Universität Lausanne und Mitglied der Covid-19-Taskforce. Man könne nur den generellen Trend vor und nach der Reform anschauen.
Einfacher gehe es mit Steuerformen in einzelnen Kantonen: Deren Folgen könne man abschätzen, indem man nicht nur die Entwicklung vor und nach der Reform anschaue, sondern auch mit derjenigen in anderen Kantonen vergleiche. Bei nationalen Projekten wird das schwierig: «Es gibt keine Vergleichs-Schweiz», stellt Brülhart ironisch fest.
England und die USA rechnen nach
Es gibt jedoch auch kein Vergleichs-Grossbritannien. Trotzdem leistet sich das Vereinigte Königreich mit dem Institute for Fiscal Studies eine spezielle Einrichtung, die die Wirkung von Steuerreformen auch nachträglich untersucht. In anderen Ländern wie den USA gibt es vergleichbare Institute.
Die Schweiz überlässt solche Wirkungsforschung in der Regel den Universitäten. Es gibt ganz wenige Ausnahmen, in denen doch noch nachträglich gerechnet wurde, weil die Datenlage für die Ex-ante-Schätzung schlecht oder der politische Druck gross war. Das war beim vor zehn Jahren eingeführten Kapitaleinlageprinzip der Fall sowie beim Abzug für die Fremdbetreuung von Kindern, den der Bund 2012 einführte.
Versuchsballon soll starten
Was, wenn für alle Steuerreformen Ex-post-Schätzungen durchgeführt würden? Der Aufwand in der Bundesverwaltung im Allgemeinen und in der Eidgenössischen Steuerverwaltung im Besonderen würde «zweifellos deutlich steigen», sagt Joel Weibel.
«Im besten Fall zeigt sich, dass die Vorhersagen korrekt waren, dann würde eine solche Analyse vertrauensbildend wirken.»
Im Fall der Steuerreform Staf, dem mit der AHV-Finanzierung verbundenen 2-Milliarden-Paket, muss sich die Steuerverwaltung auf den Mehraufwand einstellen. Ein breit abgestütztes Postulat verlangt vom Bund eine nachträgliche Analyse. «Es ist wichtig, dass wir dies bei der Staf exemplarisch durchführen», sagt der Zürcher Mitte-Nationalrat Philipp Kutter, der den Vorstoss eingebracht hat. Gerade aus Sicht der Gemeinden und Städte sei das von Bedeutung. «Im besten Fall zeigt sich, dass die Vorhersagen korrekt waren, dann würde eine solche Analyse vertrauensbildend wirken», sagt Kutter.
Bei der linken Ratshälfte rennt Kutter damit offene Türen ein. Grünen-Nationalrätin Regula Rytz etwa sind die fehlenden Nachbetrachtungen schon länger ein Dorn im Auge. «Es ist nicht verständlich, warum eine wirkungsorientierte Verwaltung ihre eigenen Versprechungen nicht überprüfen will.» Staf sei nur der Anfang, so Rytz: «Auch in Zukunft sollen Wirkungsüberprüfungen zu Steuerreformen gemacht werden.» Die Verantwortung für solche Nachbetrachtungen ortet die Bernerin bei der Finanzverwaltung, die diese Aufgabe auch an Experten weitergeben könnte.
GLP-Nationalrat und Ökonom Roland Fischer sagt: «Es kann auch für weitere Steuervorlagen von Vorteil sein, wenn man im Nachhinein deren Wirkung überprüft.» Je mehr Informationen Kantone, Gemeinden und Bund zu den Steuervorlagen haben, desto besser. Fischer sieht aber ein, dass eine solche Berechnung im Nachhinein zwar möglich, aber sehr komplex sei.
Überraschungen sind möglich
Das gilt bereits vor einer Reform, wie bei der von der OECD anvisierten globalen Mindeststeuer von 15 Prozent. Zuerst wurden die möglichen Verluste bei den Unternehmenssteuereinnahmen auf bis zu 5 Milliarden Franken beziffert, was einem Viertel der Gewinnsteuereinnahmen entsprochen hätte. Inzwischen hat das Finanzdepartement diese Zahl immer weiter nach unten korrigiert.
Zu den tatsächlichen Auswirkungen ist damit noch nichts gesagt. Wenn diese mal nachgeprüft werden, sind Überraschungen gut möglich. Das zeigte sich bei den Erbschaftssteuern, welche um die Jahrtausendwende in den meisten Kantonen mit dem Argument abgeschafft wurden, sonst wanderten die guten Steuerzahler in den Nachbarkanton ab.
Wirtschaftsprofessor Brülhart und sein Kollege Raphaël Parchet haben das untersucht und gemerkt: «Die betroffenen Steuerzahler – Leute in fortgeschrittenem Alter mit grossem Vermögen – haben wenn überhaupt nur so schwach reagiert, dass solche Reaktionen statistisch nicht belegt werden konnten.» Sprich, kaum einer ist umgezogen. Brülhart zieht daraus den wenig erbaulichen Schluss: «Das Hauptargument in den Abstimmungskämpfen basierte auf einer Fehleinschätzung, wenn nicht sogar auf einer Lüge.»
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