Streikkultur in EuropaWarum die Franzosen und Deutschen streiken, nicht aber die Schweizer
Die Bilder von leeren Bahnhöfen erwecken den Eindruck, als ob die Deutschen die Arbeit häufiger niederlegten als früher. In Wirklichkeit sinkt die Zahl grosser Streiks seit Jahrzehnten.
In Deutschland geht nichts mehr: Der Streik der Lokführer lähmt den gesamten Personen- und Güterverkehr. «Eine Katastrophe für dieses Land» titelt etwa die «Rheinische Post». Der deutsche Bundesverband der Industrie rechnet wegen des Arbeitskampfes mit einer Milliarde Euro Gesamtschaden.
Wenn die 40’000 Mitglieder der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer ihre Arbeit niederlegen, hat das starke und unmittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaft und das Gesellschaftsleben. Und diese werden in Form von leer gefegten Perrons und vollen Strassen von einer breiten Öffentlichkeit im In- und Ausland wahrgenommen. Dabei mag sich mancher fragen, ob die Deutschen den Franzosen und Italienern allmählich Konkurrenz als Europas Streikweltmeister machen.
Tatsächlich aber stellt der deutsche Bahnstreik in unserer Zeit eine Ausnahme dar. In Deutschland sind Arbeitsniederlegungen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern selten – und im Vergleich zur Zeit vor der Jahrtausendwende noch seltener geworden. Dass der aktuelle Streik derart präsent ist, liegt daran, dass Millionen Menschen direkt betroffen sind und dass flächendeckende und wochenlange Streiks nicht mehr üblich sind.
Zahlen des European Trade Union Institute (Etui) in Brüssel zeigen, dass Deutschland zwischen 2000 und 2022 deutlich weniger häufig von Streiks betroffen war als Spitzenreiter Frankreich oder die Nummer zwei, Belgien. Selbst Finninnen, Dänen und Norwegerinnen legten die Arbeit zwei- bis fünfmal häufiger nieder als die Deutschen. Die Schweizer sind in dieser Statistik mit durchschnittlich zwei Streiktagen pro Jahr das unangefochtene Schlusslicht.
Gründe für die Toppositionen der nord- und westeuropäischen Länder erkennt der an den Universitäten Zürich und Bern lehrende Politikwissenschaftler Klaus Armingeon in der Mitglieder- und Ressourcenstärke der dortigen Gewerkschaften: «Sie können deshalb bis heute ein relativ höheres Streikniveau durchhalten.»
Gewerkschaften, die Streiks durchführen, brauchen Geld für die Streikunterstützung und mobilisierbare Mitglieder, erklärt Armingeon. «Und die Gewerkschaften Nordeuropas und Belgiens sind im internationalen Vergleich auch heute noch besonders mitgliederstark.»
Deutschland oder die Schweiz wiederum sind sehr sozialpartnerschaftlich ausgerichtete Länder, in denen die Gewerkschaften immer seltener zum letzten Kampfmittel greifen. Doch selbst in Frankreich, das die Streik-Rangliste der letzten 20 Jahre anführt, haben die Arbeitsniederlegungen insgesamt abgenommen. Bis in die Mitte der Achtzigerjahre waren grossflächige und lang anhaltende Streiks in Frankreich, Italien und Deutschland gang und gäbe. Seither nimmt ihre Häufigkeit in ganz Europa stetig ab.
«Am langfristigen generellen Niedergang der Streikaktivität ist unter anderem der generelle Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads schuld, der in Nordeuropa noch am geringsten ausfällt», sagt Politikwissenschaftler Armingeon. Zudem seien die Arbeitgeber weniger bereit, Gesamtarbeitsverträge mit den Gewerkschaften auszuhandeln.
Die sinkende Lust der Arbeitgeber, zu kooperieren, sei zum Teil eine Folge der Globalisierung: «Die Arbeitgeber können mit der Verlegung von Produktionsstandorten glaubhaft drohen, wenn ein Land eine besonders hohe Streikaktivität hat», sagt Armingeon.
Etwas Ähnliches scheint sich in Italien abzuspielen: Das Land mit seiner reichen Streikgeschichte gibt seit 2010 keine Zahlen zu den jährlichen Streiktagen mehr bekannt. Kurt Vandaele, Senior Researcher des Gewerkschaftsinstituts Etui, sieht einen möglichen Grund dafür, dass «die Regierung ausländische Direktinvestitionen anlocken will». Daten über Streiks würden da nur stören.
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