Drohendes Chaos im ÖVWas Sie zum Streik in Deutschland wissen sollten
Der bisher längste Arbeitskampf bei der Deutschen Bahn hat auch Auswirkungen auf Reisende aus der Schweiz. Hier finden Sie die wichtigsten Fragen und Antworten.
Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) will von Dienstagnacht den Zugverkehr für sechs Tage lahmlegen. Es ist der wohl längste Streik in der Geschichte der Deutschen Bahn. Das sind die wichtigsten Fragen und Antworten:
Womit müssen Zugreisende rechnen?
Die Deutsche Bahn geht selbst davon aus, dass der Verkehr massiv beeinträchtigt sein wird. Sie will durch einen Notfahrplan so viele Züge wie möglich fahren lassen. Bei den drei vorherigen Streiks fielen im Fernverkehr rund 80 Prozent der Zugverbindungen aus, andere waren verspätet. Bei einem sechstägigen Streik wird es für die Bahn schwieriger, zumindest 20 Prozent der Züge fahren zu lassen, glaubt der Vorsitzende des Fahrgastverbandes Pro Bahn, Detlef Neuss. Denn das eingesetzte Personal müsse die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen einhalten.
Drastische Auswirkungen werden auch im Güterverkehr erwartet. Hier hat der Streik bereits am Dienstag um 18 Uhr begonnen. «Wenn wie beim letzten Streik sowohl Lokführer als auch Zugverkehrsleiter streiken, rechnen wir mit grösseren Auswirkungen», schreiben die SBB. Die Auswirkungen seien aktuell noch schwer abzuschätzen, für den gemeinsamen Güterverkehr mit der Deutschen Bahn müsse auf der Strecke Mannheim–Chiasso und umgekehrt mit einem Ausfall von 90 Prozent des Verkehrs gerechnet werden.
Was können Schweizer Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer tun?
Wer aus der Schweiz eine Bahnreise nach Deutschland geplant hat, sollte sich so früh wie möglich über die Einschränkungen informieren. Die SBB schreiben auf Anfrage: «Im Rahmen einer Sonderkulanz der Deutschen Bahn haben Reisende die Möglichkeit, ihre Reise zu verschieben und das Ticket früher oder später zu nutzen.» Deshalb sei es bei den Reiseangeboten der SBB zu verhältnismässig wenig Stornierungen gekommen. Wichtig: Sämtliche Zugreiseangebote, die auf der Hin- oder Rückreise vom Streik betroffen sind, können jeweils kostenlos rückerstattet oder umgetauscht werden. Dies einschliesslich derjenigen Tickets, die laut Tarif nicht umtauschbar oder erstattbar sind.
Für Urlauberinnen und Urlauber aus der Schweiz gilt das Pauschalreisegesetz: «Kundinnen und Kunden, welche ihre Zug-Pauschalreise aufgrund des Bahnstreiks nicht antreten können, erhalten ihr Geld zurück», schreibt Hotelplan auf Anfrage. Wer wegen des Streiks länger in Deutschland bleiben müsse und dadurch Mehrkosten habe, trage diese jedoch selber. Einige Kundinnen und Kunden hätten laut dem Reiseveranstalter ihre geplante Reise aufgrund des Streiks stornieren müssen, eine genaue Anzahl Buchungen gibt Hotelplan aber nicht bekannt.
Welche Schäden verursacht der Streik?
Ein eintägiger Streik kostet Deutschland 100 Millionen Euro Wirtschaftsleistung, schätzt das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Bei einem so langen Ausstand wie jetzt stiegen die Kosten aber nicht anteilig, sondern multiplizierten sich teils. «Wir sind da schnell bei einer Milliarde Euro Schaden», sagt IW-Forscher Michael Grömling. Grössere Probleme entstehen, wenn Unternehmen ihre Produktion herunterfahren müssen, weil ihnen Teile ausgehen. Erschwerend kommt hinzu, dass derzeit nach Attacken der Huthi-Miliz im Roten Meer Containerschiffe umgeleitet werden – sie nehmen die deutlich längere Strecke um das Kap der Guten Hoffnung herum.
Lässt sich der Streik juristisch stoppen?
In der Vergangenheit hat die Bahn gegen Streiks geklagt und damit teilweise Erfolge gehabt – etwa im vergangenen Jahr, als sie einen Vergleich mit der Eisenbahngewerkschaft EVG erzielte und diese den Arbeitskampf wieder absagte. Die jüngste Klage gegen die GDL – dabei ging es um den dreitägigen Streik vor zwei Wochen – scheiterte allerdings vor dem Landesarbeitsgericht Hessen. Mit Blick auf dieses Scheitern will die Bahn nun auf eine neuerliche Klage im Eilverfahren verzichten, da sie glaubt, dass die Erfolgschancen gering seien. Manche Juristen sehen das allerdings anders.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts muss ein Streik verhältnismässig sein. Leider habe das Gericht vor 16 Jahren diesen Grundsatz neu interpretiert und sei heute der Meinung, dass die Verhältnismässigkeit vor allem von der streikenden Gewerkschaft zu beurteilen sei, sagt der Arbeitsrechtler Richard Giesen. «Trotzdem dürfte bei einem so langen Streik wie jetzt und einer so starken Beeinträchtigung der notwendigen Infrastruktur der Streik unverhältnismässig und damit rechtswidrig sein», so Giesen, der einen Lehrstuhl am Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht der Uni München hat. Eine Klage könne deshalb durchaus Erfolg haben.
Auch wenn die Bahn diesmal auf ein solches Verfahren verzichtet, muss die GDL weitere rechtliche Schritte fürchten. Die Bahn hat bereits Klage vor dem Landesarbeitsgericht Hessen eingereicht: Dort wirft sie der GDL vor, mit der Gründung ihrer Genossenschaft Fairtrain, die Lokführer einstellen und an die Bahn verleihen soll, gegen geltendes Recht zu verstossen. Die GDL trete nämlich so gleichzeitig als Gewerkschaft und als Arbeitgeber für Lokführerinnen und Lokführer auf, was nicht zulässig sei. Arbeitsrechtler Giesen sieht auch bei dieser Klage Chancen.
Ist sie erfolgreich, dann könnte sie dazu führen, dass die GDL ihr Recht verliert, Tarifverträge abzuschliessen. Dann wären möglicherweise die Vereinbarungen mit der Bahn nichtig, und den bereits veranstalteten Streiks würde die Rechtsgrundlage entzogen. Das wiederum würde bedeuten, dass sich die GDL auf Schadenersatzklagen der Bahn einstellen müsste. Gewerkschafter Claus Weselsky und die Bahnmanager werden sich also aller Voraussicht nach vor Gericht wiedersehen.
Worüber wird eigentlich gestritten?
Der grösste Streitpunkt in den Tarifverhandlungen ist bislang die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 38 auf 35 Stunden für Lokführerinnen und andere Schichtarbeiter. Die Gewerkschaft will sie bei vollem Lohnausgleich durchsetzen. Die Bahn zeigt sich nach anfänglicher Ablehnung mittlerweile verhandlungsbereit. Sie ist inzwischen auch dafür offen, über eine Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich zu sprechen, im Gespräch sind bislang 37 Stunden. Es gebe aber noch weiteren Spielraum, hat die Bahn signalisiert. Das aber reicht der Gewerkschaft nicht, um den Dialog wieder aufzunehmen.
Einen weiteren, heftigen Konflikt gibt es um das Ansinnen der Gewerkschaft, nicht nur für Lokführerinnen und das fahrende Personal, sondern auch für die Mitarbeitenden der sogenannten Infrastruktur einen Tarifvertrag zu verhandeln, also zum Beispiel für die Fahrdienstleiter. Die GDL will das, weil sie auch in dieser Sparte Mitglieder gewinnen möchte. Die Bahn wiederum argumentiert, die Gewerkschaft habe in diesem Teil der Belegschaft keine Vertretungsmacht, sie organisiere dort also keine relevante Zahl von Beschäftigten, anders als die Konkurrenzgewerkschaft EVG. Deshalb seien Tarifverhandlungen in dieser Sparte mit der GDL sinnlos.
Lassen sich lange Zugstreiks generell beschränken?
Es gibt in Deutschland immer wieder Forderungen, Streiks in der kritischen Infrastruktur zu beschränken, die für das Leben vieler Millionen Menschen wichtig ist. Dazu zählen neben Bahnreisen auch Flüge, Energieversorgung oder Rettungsdienste. Diese Forderungen dürften angesichts des Rekordstreiks zunehmen. Zuletzt schlug die CDU-Mittelstandsunion neue Regeln vor. Streiks in der kritischen Infrastruktur sollten nur noch erlaubt sein, wenn zuvor ein Verfahren mit unabhängigen Schlichtern gescheitert sei. Ausserdem sollten Ausstände nur möglich sein, wenn 50 Prozent aller Beschäftigten dafür stimmen. Das wäre je nach genauer Definition der Regeln für die GDL schwer zu erreichen: Sie vertritt nur wenige Zehntausend der rund 200’000 Bahnmitarbeiter und organisiert nur in wenigen der 300 Einzelbetriebe der Bahn die meisten Mitglieder.
Der Münchner Arbeitsrechtler Giesen hält es juristisch für möglich, Streiks in der kritischen Infrastruktur politisch einzuschränken. Das sei trotz der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie vorstellbar. Verkehrsminister Volker Wissing lehnte die Forderungen aus der Opposition am Montag allerdings ab: «Das Streikrecht gehört zu den wesentlichen Grundrechten unserer Demokratie, die aber immer von jedem auch verlangen, sie verantwortlich zu nutzen», sagte er.
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