Arbeitskampf mit FolgenBeim Autostreik in den USA geht es ums Ganze
Angestellte von GM, Ford und Stellantis streiken für mehr Lohn. Doch auf dem Spiel steht auch die Zukunft der Gewerkschaft, jene der Elektrofahrzeuge – und sogar diejenige Präsident Bidens.

Zahlenmässig ist der am frühen Freitag ausgerufene Streik in Amerikas Autoindustrie eine bescheidene Angelegenheit. Lediglich 12’700 Beschäftigte haben in drei Werken ihre Arbeit niedergelegt. Das sind nicht einmal zehn Prozent der 146’000 Mitglieder der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW), die bei Detroits grossen drei Autoherstellern die Angestellten vertritt.
Zum Vergleich: 2019 streikten 46’000 Arbeiterinnen und Arbeiter bei General Motors einen Monat lang für höhere Löhne – ganz zu schweigen von 1970, als 67 Tage lang 400’000 UAW-Mitglieder gleichzeitig die Arbeit niederlegten.

Der aktuelle Arbeitskampf könnte jedoch enorm folgenreich werden. Vordergründig geht es um Lohnforderungen für die Mitarbeiterschaft der amerikanischen Hersteller GM, Ford und Stellantis, zu dessen weltweit 16 Marken in den USA Chrysler, Jeep, Dodge und Ram zählen.
Unter der Führung ihres im März gewählten neuen Präsidenten Shawn Fain verlangt die Autogewerkschaft von den «Big Three» für die nächsten vier Jahre eine Lohnerhöhung von 36 Prozent. Zudem sollen die Konzerne die Wochenarbeitszeit auf 32 Stunden reduzieren, die Arbeitsplatzsicherheit festigen und anstatt Alterssparplänen fixe Pensionen anbieten.
«Wir sind für alles gerüstet, was es braucht, und die Mitglieder stehen bereit», sagte Gewerkschafter Fain am Sonntag am CBS-Fernsehen. «Wir haben es satt, dass wir seit Jahrzehnten zurückfallen.» Fain argumentiert mit den von den grossen drei erzielten hohen Gewinnen der letzten Jahre. GM, Ford und Stellantis hätten im letzten Jahrzehnt 250 Milliarden Dollar Profit erwirtschaftet, sagt er, davon allein 21 Milliarden in den letzten sechs Monaten.
Der Streik könnte noch ausgeweitet werden
Die drei Autohersteller sind der Gewerkschaft in den ersten fünf Tagen des Streiks nur minimal entgegengekommen. Am Wochenende offerierte Stellantis neu einen um 21 Prozent höheren Stundenlohn, was Fain mit dem Ausdruck «No-go» wegwischte. Am Montag warnte der forsche Gewerkschaftspräsident, beim Ausbleiben substanzieller Fortschritte werde der Arbeitskampf Freitagmittag über die drei strategisch ausgewählten Fabrikationsstätten hinaus ausgeweitet. Analysten gehen davon aus, dass der Streik noch länger andauern könnte.
Fain folgte zum ersten Mal in der UAW-Geschichte nicht der traditionellen Strategie, nur ein Unternehmen anzugreifen, um die mit ihm ausgehandelte Lösung dann als Muster den anderen beiden Konzernen zu unterbreiten. Stattdessen legen UAW-Mitglieder gleichzeitig ein Lieferwagenwerk von GM in Missouri lahm, eine Pick-up-Fabrik von Ford in Michigan und einen Stellantis-Montagebetrieb für Jeeps in Ohio.
Um in der Öffentlichkeit zu punkten, macht der Chef der Gewerkschaft auf Klassenkampf.
Das innovative Vorgehen ist kompliziert und belastet die Solidarität innerhalb der Belegschaften. Es hat jedoch den Vorteil, dass aufgrund der zunächst kleinen Zahl von Betroffenen die mit 825 Millionen Dollar gefüllte UAW-Streikkasse länger hält. Die Gewerkschafter wissen, dass die drei Unternehmen dank hoher Gewinne einen langen Arbeitskampf durchstehen können.
Um in der Öffentlichkeit zu punkten, macht Fain auf Klassenkampf. Mary Barra habe als CEO von GM letztes Jahr 29 Millionen Dollar erhalten, empört sich der Gewerkschaftsboss. Das sei 362-mal mehr als der Medianlohn von GM-Arbeiterinnen und -Arbeitern.
Die Argumente der Lohndifferenz und der Unternehmensgier kommen gut an. Gewerkschaften sind in den USA populärer denn je seit 1965. Eine Mehrheit von Befragten unterstützt die Arbeitsniederlegung der Auto-Belegschaften, die nach der Finanzkrise um 2007 schwere Einbussen hinnehmen mussten. Damit die maroden Autokonzerne saniert werden konnten, verzichteten sie unter anderem auf den automatischen Kaufkraftausgleich, was sich bei der hohen Inflationsrate seit letztem Jahr dramatisch auswirkt.
Hersteller stehen unter Erfolgsdruck
Nicht nur die Gewerkschaft, auch die bestreikten Hersteller stehen unter Erfolgsdruck: Sie müssen den von Washington befohlenen Übergang ins Elektrozeitalter schaffen. Um neue Lieferketten einzurichten, Fabriken umzurüsten und Batteriewerke zu bauen, wollen GM und Stellantis bis 2025 je 35 Milliarden Dollar ausgeben, Ford bis 2026 gar 50 Milliarden.
Würden die Gewerkschaftsforderungen umgesetzt, müsste Ford seine Investitionen in Elektrofahrzeuge aufgeben, drohte CEO Jim Farley am Freitag. Er wolle eine nachhaltige Zukunft, nicht den «Zwang, zwischen der Geschäftsaufgabe und der Entlohnung unsere Arbeiter zu wählen».

Die traditionellen drei befinden sich hinsichtlich Elektro nämlich im Hintertreffen. Zusammengerechnet stellten sie letztes Jahr nicht einmal 100’000 E-Fahrzeuge her. Ford verlor laut «Wall Street Journal» für jedes verkaufte Elektroauto 60’000 Dollar. Das Unternehmen werde im Sektor Elektrifizierung dieses Jahr 4,5 Milliarden Verlust einfahren, schätzt Farley.
Abgehängt wurden die «Big Three» allem vom stabil profitablen Elektro-Pionier Tesla, der in den USA letztes Jahr rund 500’000 E-Mobile absetzte. Das nicht gewerkschaftlich organisierte Unternehmen zahlt Stundenlöhne von etwas über 40 Dollar, und CEO Elon Musk will diese Kostenkomponente in den nächsten Jahren halbieren, um mit den noch viel schlanker produzierenden chinesischen Rivalen mitzuhalten.
Im Vergleich entrichten Amerikas drei Traditionsunternehmen ihrer Mitarbeiterschaft schon jetzt im Schnitt über 60 Dollar pro Stunde. Würden alle Lohnforderungen erfüllt, stiegen die Lohnkosten auf über 130 Dollar pro Stunde, errechnete Wells Fargo. Die drei Konzerne können gegenüber der Gewerkschaft zusätzlich anführen, dass für den Zusammenbau von Elektroautos bis zu 40 Prozent weniger Arbeitskräfte benötigt werden als bei Verbrennern.
Trump will um Wähler werben
Die Schlüsselrolle der Elektrifizierung macht den laufenden Arbeitskampf zum eminent politischen Thema. Präsident Joe Biden sieht sich als Freund der Gewerkschaften, und er hat am Freitag die UAW-Begehren explizit unterstützt. Seine Regierung treibt aber auch den schnellen Übergang zum Elektrozeitalter voran. Demokraten fürchten, der ungelöste Zielkonflikt könnte ihm nächstes Jahr im Wahlkampf schaden.
Bidens grösster Gegner Donald Trump schlachtet die Situation bereits aus. Der führende Republikaner im Präsidentschaftsrennen warnt, Bidens Klimapolitik werde die US-Autoindustrie in den Untergang treiben. Für Freitag nächster Woche plant Trump in Detroit einen grossen Auftritt, um in den Kernlanden der umkämpften US-Autoindustrie Anhänger anzuwerben.
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