Russischer Einmarsch «absurd» António Guterres will Fluchtkorridore vermitteln
Der UNO-Generalsekretär besucht die Vororte von Kiew, in denen russische Truppen Kriegsverbrechen begangen haben sollen. In der Ukraine wartet auf ihn eine diplomatische Herausforderung.
Ein wenig wirkt er in dem grünen Pullover und der braunen Hose, als einer der wenigen Zivilisten zwischen schwer bewaffneten ukrainischen Soldaten und finster dreinblickenden Sicherheitskräften, wie das Mensch gewordene Gewissen der Völkergemeinschaft. Am Donnerstag hat António Guterres, Generalsekretär der UNO, Borodjanka, Irpin und Butscha besucht, die Vororte der ukrainischen Hauptstadt Kiew, in denen die russische Armee Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung verübt haben soll. Wahllose Tötungen, Vergewaltigungen, Folter. Von den Städten ist an vielen Orten wenig mehr als eine ausgebrannte Ruine geblieben. (Hören Sie hier den Podcast mit dem Fotografen Alex Kühni, der in der Ukraine fotografiert hat.)
Mit ruhiger Miene lässt sich Guterres durch diese Orte des Grauens führen. Er steht am Fundort eines Massengrabs, der Generalsekretär starrt auf die hellbraune Schlammwüste, in die der Regen die letzte Ruhestätte einiger Bewohner Borodjankas verwandelt hat. Um ihn herum fotografiert, redet, gestikuliert eine Schar Journalisten, Berater und Soldaten, nur Guterres scheint sich die Zeit zu nehmen, es wirken zu lassen, was das bedeutet: ein Massengrab, mitten in einer Stadt in Europa im Jahr 2022.
«Ich stelle mir meine Familie in einem dieser Häuser vor, die nun zerstört und schwarz sind.»
Später sagt er: «Ich stelle mir meine Familie in einem dieser Häuser vor, die nun zerstört und schwarz sind. Und ich sehe meine Enkeltöchter in Panik davonlaufen.» Er fordert eine gründliche Untersuchung der Verbrechen und Rechenschaft. Bei Twitter postet der 72 Jahre alte Portugiese ein Bild von dem Besuch mit dem knappen Kommentar «Krieg ist böse».
Guterres verurteilte den russischen Einmarsch in die Ukraine, ein solcher Krieg im 21. Jahrhundert sei nicht zu akzeptieren und «eine Absurdität». Später am Donnerstag war noch ein Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski anberaumt.
Guterres’ Besuch in der Ukraine war im Vorfeld kritisiert worden, weil er zwei Tage zuvor erst den russischen Präsidenten Wladimir Putin und Aussenminister Lawrow in Moskau getroffen hatte. Erst im Anschluss reiste er über Polen in die Ukraine weiter. Das wirke, so die Kritiker, als überbringe er in Kiew die Perspektiven und Wünsche des Kreml.
Unabhängig vom diplomatischen Zeitplan wurde aber die Bereitschaft Putins zu einem Treffen mit Guterres schon als positives Signal aufgenommen, denn die Vereinten Nationen seien nach wie vor auch für Russland ein wichtiges Gremium, erklärte der deutsche Politikwissenschaftler Manuel Fröhlich.
Erklärtes Ziel der Reise von Guterres sind neben der Frage nach Kriegsverbrechen ein möglicher Waffenstillstand und die Einrichtungen von Fluchtkorridoren für Zivilisten. Moskau habe in dieser Sache am Dienstag grundsätzliche Kooperationsbereitschaft signalisiert. Versprechen dieser Art kamen aus dem Kreml aber auch früher schon, meist ohne dass konkrete Taten folgten.
UNO sucht eine Vermittlerrolle
Akut ist die Frage nach einem Fluchtkorridor derzeit besonders im Fall der belagerten Hafenstadt Mariupol, wo sich in einem Stahlwerk Tausende ukrainische Soldaten und Zivilisten verschanzt haben. Im Fall der eingekesselten ukrainischen Soldaten und Zivilisten drängt die Zeit. Sie sind seit Wochen von jeder Versorgung abgeschnitten und stehen unter ständigem Beschuss der russischen Armee.
Allerdings ist noch unklar, ob die UNO die ersehnte Vermittlerrolle zwischen Russland und der Ukraine übernehmen kann. Trotz der deutlichen Verurteilung des russischen Angriffskrieges durch Guterres werden sich nach derzeitigem Stand des Krieges für jede Art von diplomatischem Kompromiss beide Seiten bewegen müssen. Russland scheint jedoch keinen Grund zu sehen, der Ukraine irgendwie entgegenzukommen. Und unklar ist auch noch, welche Forderungen Selenski erfüllen müsste, um etwa die Menschen aus dem Stahlwerk in Mariupol zu retten. Hier einen Kompromiss zu finden, der Menschen rettet und weitere Verhandlungen möglich macht, ist die Herausforderung, vor der António Guterres nun steht.
Nato mit «offenen Armen»
Unterdessen machte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel klar, dass das Verteidigungsbündnis bereit sei, die Ukraine «über Monate oder gar Jahre» zu unterstützen. So müssten die ukrainischen Soldaten geschult werden, künftig anstelle von militärischem Gerät sowjetischer Bauart moderne westliche Ausrüstung zu bedienen.
Äusserst positiv äusserte sich der Generalsekretär über die Überlegungen von Finnland und Schweden, der Nato beizutreten. Sollten sich die Länder für eine Bewerbung entscheiden, rechne er damit, dass beide «mit offenen Armen» empfangen würden. In Brüssel wird erwartet, dass Anträge aus Helsinki und Stockholm beim Nato-Gipfel Ende Juni angenommen werden und dann Monate vergehen, bis alle Details ausgehandelt sind und die Parlamente der Mitgliedsländer zugestimmt haben.
Die US-Regierung will derweil stärker gegen russische Oligarchen vorgehen, die Präsident Wladimir Putin nahestehen. Das Weisse Haus kündigte an, es werde die bürokratischen Verfahren erleichtern, die notwendig sind, um Vermögenswerte solcher Personen in den USA zu finden, einzufrieren oder zu enteignen. Zudem soll es künftig möglich sein, so enteignetes Vermögen an die Ukraine zu übergeben, um das Land für Putins Angriffskrieg zu entschädigen. Nach Regierungsangaben wurden bisher Schiffe und Flugzeuge im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar beschlagnahmt sowie «Hunderte Millionen Dollar» eingefroren.
Fehler gefunden?Jetzt melden.