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Deutsche Regierung in der Krise
FDP-Chef Lindner reicht Scheidungs­papiere ein

BERLIN, GERMANY - OCTOBER 29: German Finance Minister and leader of the Free Democratic Party (FDP) Christian Lindner speaks to the media at the Reichstag following a mini summit of representatives of Germany's mid-size companies (Mittelstand) on October 29, 2024 in Berlin, Germany. The summit, organized and hosted by the FDP, the junior partner of the German federal coalition, took place on the same day that Chancellor Olaf Scholz, member of the German Social Democrats (SPD), the leading coalition party, is scheduled to hold a separate economic summit. Analysts are seeing an increasing lack of cohesion among initiatives of the three-party governing coalition. (Photo by Sean Gallup/Getty Images)
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In Kürze:
  • Das Papier von Christian Lindner könnte das Ende der Koalition einleiten.
  • Der Finanzminister will 13,5 Milliarden Euro aus dem Budget 2025 streichen.
  • Er fordert Steuersenkungen. Schulden über die Schuldenbremse hinaus sind ausgeschlossen.

Zuletzt verging in Deutschland kaum ein Tag, an dem nicht eine wichtige Zeitung oder Zeitschrift ein sofortiges Ende der regierenden Koalition und vorgezogene Neuwahlen forderte. Am Freitagmorgen tat es der «Spiegel», in einem auffallend wütenden Leitartikel. Wie die Ampel jetzt ende, sei eigentlich egal, hiess es da: «Hauptsache, es geht schnell.»

Wie das Endspiel dieser Regierung aussehen könnte, zeigte sich schon am selben Nachmittag. Da gelangte ein 18-seitiges Papier von FDP-Chef Christian Lindner an die Öffentlichkeit, das sich wie der Entwurf einer Scheidungsurkunde liest. Angesichts der Wirtschaftskrise will der Finanzminister eine politische «Wende» erzwingen. Die damit verbundenen Forderungen sind aus Sicht der sozialdemokratischen und grünen Koalitionspartner allesamt Provokationen – und könnten eine Entlassung oder einen Ausstieg der FDP aus der Koalition vorbereiten.

Vordergründig geht es bei Lindners Schreiben um eine verfassungskonforme Neuaufstellung des Budgets für 2025 und eine Neuausrichtung der gesamten Wirtschaftspolitik. Tatsächlich versichert sich die FDP mit ihrer umfangreichen Wunschliste vor allem ihrer eigenen reinen Lehre und häuft Zumutungen an Sozialdemokraten und Grüne auf – säuberlich austariert, gerecht verteilt.

Auch neue Sondervermögen schliesst Lindner jetzt aus

An den Beginn stellt der Finanzminister die Aufgabe, nochmals 13,5 Milliarden Euro aus dem geplanten Budget herauszuschneiden. Die FDP schliesst dabei wie bis anhin jede Steuererhöhung und jede Aufweichung oder Umgehung der Schuldenbremse aus. Die neuen Schuldenregeln der EU, belehrt Lindner SPD und Grüne, verunmöglichten künftig übrigens auch jegliche Sondervermögen neben dem Haushalt – wie die 100 Milliarden Euro, die die Regierung 2022 zur Wiederaufrüstung der Bundeswehr aufgelegt hatte.

Um die Aufgabe noch zu erschweren, schlägt Lindner als «Sofortmassnahmen» zur Stimulierung der lahmenden Wirtschaft zusätzlich Steuersenkungen vor: die stufenweise Abschaffung des Solidaritätszuschlags für Spitzenverdiener und die Absenkung der Unternehmenssteuern um zunächst zwei Prozent – was 2025 die Einnahmen um 8 Milliarden Euro schmälern würde.

FILE - German Chancellor Olaf Scholz, from right, Economy and Climate Minister Robert Habeck and Finance Minister Christian Lindner listen to a debate about Germany's budget crisis at the parliament Bundestag in Berlin, Germany, Tuesday, Nov. 28, 2023. (AP Photo/Markus Schreiber, File)

Für die Sozialdemokraten unannehmbar ist Lindners Vorschlag, drei Milliarden Euro bei Arbeitslosengeld und Sozialhilfe einzusparen, indem Tarife gesenkt und Wohnungskosten nur noch pauschal vergütet werden, nicht mehr in tatsächlicher Höhe. Gleiches gilt für den Vorschlag, Arbeitnehmende, die früher als mit 67 Jahren in Rente gehen, mit stärkeren Einbussen in ihrer Altersvorsorge zu belasten.

Um die wuchernde Bürokratie einzudämmen, fordert der FDP-Chef zudem ein sofortiges Moratorium für neue gesetzliche Regulierungen. Dabei weiss er natürlich genau, dass der sozialdemokratische Arbeitsminister Hubertus Heil noch wichtige Gesetze geplant hat, zum Beispiel zur Verbindlichkeit gewerkschaftlich vereinbarter Löhne bei öffentlichen Aufträgen. Auch dieses Vorhaben stellt für die SPD eine «rote Linie» dar.

Die Grünen und ihren Vizekanzler Robert Habeck greift Lindner an, indem er die gesamte ökologische Transformation infrage stellt. Deutschland solle keine Vorreiterrolle beim Klimaschutz mehr spielen, sondern sich mit den niedrigeren Zielen der EU zufriedengeben. Verbote für umweltschädliche Technologien und Subventionen für saubere sollen so weit wie möglich abgeschafft werden. Stattdessen soll ein stetig steigender Preis für den Ausstoss von CO₂ den Weg zur Klimaneutralität 2050 ebnen (statt 2045).

Das Vorbild von Genscher und Graf Lambsdorff

Lindners Papier zur «Wirtschaftswende» erinnert nicht zufällig an ein ähnliches Schreiben eines anderen liberalen Ministers: Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff leitete mit ihm 1982 den Bruch der Koalition von SPD-Kanzler Helmut Schmidt ein. Schmidt kam dem Austritt der FDP damals zuvor, indem er deren Minister entliess. Zwei Wochen später wählten die Liberalen unter Aussenminister Hans-Dietrich Genscher den Christdemokraten Helmut Kohl zum neuen Kanzler.

Vergleichbar mit der heutigen Lage ist, dass sich die Koalitionäre damals ebenfalls über Monate hinweg auseinandergelebt hatten und dass eine Wirtschaftskrise die politischen Probleme drastisch verschärfte. Ein wichtiger Unterschied liegt im Umstand, dass diesmal drei Parteien und nicht zwei die Koalition bilden – und die FDP anders als damals keine Regierungsalternative hat. Nach Neuwahlen würde sie sich wohl im besten Fall auf den Bänken der Opposition wiederfinden, im schlimmeren Fall aus dem Bundestag fliegen – wie 2013, nach der letzten Regierung mit liberaler Beteiligung.

Der 45-jährige Lindner jedenfalls hat kürzlich in der «Rheinischen Post» selbst auf 1982 verwiesen und die Beherztheit des damaligen FDP-Chefs Genscher gelobt: «In der Innenpolitik hatte er den Mut, die Existenz unserer Partei zu riskieren, um dem Land den nötigen marktwirtschaftlichen Politikwechsel zu ermöglichen.»