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UNO-Flüchtlingswerk in Afghanistan
«Im Umgang mit den Taliban haben wir rote Linien»

«Wir dürfen die Menschen in Afghanistan nicht im Stich lassen»: Leonard Zulu, Leiter der UNHCR-Mission in Kabul.
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Afghanistan ist ein Land im Dauernotstand. Das Taliban-Regime forciert seine islamistische Agenda zulasten der Bevölkerung, die Wirtschaft kommt nicht voran, zudem wird Afghanistan immer wieder von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Überschwemmungen heimgesucht.

Die humanitäre Krise hat sich durch die erzwungene Rückkehr von rund 650’000 Afghanen aus dem Nachbarland Pakistan seit dem letzten Herbst weiter zugespitzt. Teilweise handelt es sich um Personen, die vor den Taliban geflohen waren. Über 3 Millionen Menschen sind Vertriebene im eigenen Land. Seit 2021 flohen 1,6 Millionen aus Afghanistan. Die Zahl der weltweit gemeldeten Flüchtlinge aus Afghanistan liegt bei 6,4 Millionen.

Von den 43 Millionen Menschen, die in Afghanistan leben, bräuchten über 23 Millionen humanitäre Hilfe. «6 Millionen Menschen befinden sich in einer verzweifelten Lage», sagt Leonard Zulu bei einem Gespräch in Zürich, wo er an einem Spendenanlass für das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR teilgenommen hat. Zulu, der aus Zimbabwe stammt, ist Leiter der UNHCR-Mission in Afghanistan. Nach Kabul ging er im Frühjahr 2022, etwa ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban.

Eine Million Mädchen dürfen nicht in die Schule

«Die Rechte von Frauen und Mädchen werden eklatant verletzt», kritisiert Zulu. So sei Mädchen der Schulbesuch über die sechste Klasse hinaus untersagt. Von dem Schulverbot sind schätzungsweise eine Million Mädchen betroffen. Unter dem Taliban-Regime werden Frauen systematisch aus dem sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben ausgeschlossen. «Sie werden in der Öffentlichkeit immer mehr zum Verschwinden gebracht», wie Zulu diesen Missstand benennt.

«Die allgemeine Menschenrechtslage ist wirklich entsetzlich», sagt Zulu, der in seiner 27-jährigen Tätigkeit für das UNHCR schon viel Schlimmes gesehen hat. Darum sei es umso wichtiger, dass das UNO-Flüchtlingswerk sowie andere internationale Hilfsorganisationen ihre Arbeit in Afghanistan fortsetzen. «Wir dürfen die Menschen in Afghanistan nicht im Stich lassen.» (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Mein Leben ist zur Hölle geworden».)

Ringen um Taliban-freie Schutzräume

Die Taliban-Behörden erschweren die Arbeit des UNO-Flüchtlingswerks. Sie versuchen, Einfluss zu nehmen auf die Hilfsprojekte des UNHCR, sie wollen mitentscheiden, welche Personen Unterstützung erhalten sollen. Es ist ein ständiges Ringen zwischen den Behörden und dem UNHCR um Taliban-freie Schutzräume. «Im Umgang mit den Taliban haben wir rote Linien», betont Zulu.

Die Menschenrechte und die Grundprinzipien des UNHCR müssten respektiert werden. «Wenn sie Druck auf uns ausüben wollen, setzen wir unsere Hilfe aus», erklärt Zulu. Das könne auch nicht im Interesse der Taliban sein. «Sie haben keine Kontrolle über uns», sagt der Vertreter des UNO-Flüchtlingswerks, das Zugang zu allen 34 Provinzen Afghanistans hat.

«Wir haben unsere Schutzräume, in denen wir vertraulich und direkt mit bedürftigen Personen sprechen und ihnen auch helfen können», sagt Zulu. Das UNHCR führe zum Beispiel Schulprojekte durch, damit Kinder einen sicheren Ort zum Lernen hätten. Und es vergebe Start-up-Darlehen und Bargeldzuschüsse für die Gründung von Unternehmen – im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe.

This photograph taken on January 9, 2024 shows Afghan burqa-clad women and children refugees deported from Pakistan, at the United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) camp on the outskirts of Kabul. Millions face months of hunger and cold, with natural disasters and displacement putting more Afghans at risk even as funding to one of the world's poorest countries -- wracked by decades of war -- has plummeted. (Photo by Wakil KOHSAR / AFP) / To go with 'AFGHANISTAN-POVERTY-AID’ FOCUS by Pascale Trouillaud and Abdullah Hasrat

Trotz der äusserst schwierigen Rahmenbedingungen gibt es Lichtblicke in der Arbeit des UNHCR: positive Geschichten, die Zulu gerne erzählt. Er berichtet etwa von einem aus Pakistan Zurückgekehrten, der dank der Unterstützung des UNHCR einen kleinen Lebensmittelladen eröffnen konnte, in dem er immer mehr Produkte anbieten kann. Oder auch von einer jungen Frau, die eine Schneiderei in Betrieb nahm und inzwischen fast 20 Frauen beschäftigt. «Dank dieses Geschäfts kann sie nicht nur ihre Familie ernähren, sondern auch ihre Ausbildung zur Labortechnikerin fortsetzen», erzählt Zulu.

Das UNHCR wolle den Menschen helfen, ihr Leben wieder aufzubauen und eine Existenzgrundlage zu haben, um Teil der Gemeinschaft zu sein. «Das gibt den Menschen ihre Würde zurück, und es fördert ihr Wohlergehen», ist Zulu überzeugt. Es gebe viele weitere Geschichten von Widerstandsfähigkeit, Einfallsreichtum, Entschlossenheit und Stärke des afghanischen Volkes.

Unterstützung für Hunderttausende

Gemäss eigenen Angaben hat das UNHCR im vergangenen Jahr bis September rund 750’000 Flüchtlinge und Vertriebene unterstützt. Das Flüchtlingswerk der UNO leistete Nothilfe und realisierte Infrastrukturprojekte wie den Bau von Schulen, Gemeindezentren, Wassersystemen und Gesundheitseinrichtungen. 260’000 Menschen erhielten Bargeldhilfe, 305’000 Personen bekamen Unterstützung in Form von Sachleistungen, und 210’000 Menschen wurden mit Unterkünften unterstützt. Ein aktueller Schwerpunkt des UNHCR ist die Unterstützung der aus Pakistan kommenden Afghaninnen und Afghanen.

Für das laufende Jahr hat das UNHCR für seine Arbeit in Afghanistan einen Finanzbedarf von rund 480 Millionen Dollar, wobei erst knapp 30 Prozent davon gesichert sind. Der Gesamtbedarf aller Hilfsorganisationen für Afghanistan beläuft sich auf 3 Milliarden, auch das ist nur zu 20 Prozent gedeckt. Die Finanzierung der humanitären Hilfe bleibt ein Dauerproblem.